Neueren Datums ist die Frage nach internen Mechanismen, die eine gesellschaftliche Entwicklung bedingen. Hier gibt es verschiedene Varianten von systemtheoretischen Vorstellungen, bei denen, etwas spitz ausgedrückt, Personen kaum eine Rolle spielen, dafür aber die menschliche Gesellschaftw als Ganzes in Anlehnung an die Kybernetik als ein System mit Rückkopplungsschleifen verstanden wird. Dabei ist eine häufige Auffassung die, dass ein soziales System in eine Reihe von Subsystemen zerfalle, von denen jedes eine bestimmte Aufgabe (Funktion) zugunsten des Gesamtsystems übernehme. Steht dieser Aspekt im Vordergrund, spricht man auch von funktionalistischen Ansätzen. Insofern hier also von der Unterordnung von Teilen unter das Ganze die Rede ist, enthalten solche Theorien eine holistische Komponente.
Werfen wir einen Blick auf die Theorie der sozio-kulturellen Evolution des amerikanischen Kulturanthropologen Roy A.Rappaport, die als Beispiel für einen kybernetischen Ansatz stehen
kann.55Roy A. Rappaport 1979.
Rappaport stellt sich vor, dass die Subsysteme eines sozialen Systems nicht einfach "nebeneinander" angeordnet sind, sondern eine regulative Hierarchie bilden, wobei bestimmte Institutionen die Kontrolle über die Subsysteme übernehmen. Die am tiefsten stehenden übernehmen sehr spezifische und genau definierte Aufgaben. Je weiter oben ein Subsystem dagegen steht, desto allgemeiner wird seine Funktion. An der Spitze finden sich Gemein-(und auch Selbst-)zwecksysteme, deren Institutionen für die allgemeinsten Postulate und Wertvorstellungen zuständig sind (vgl. dazu Abbildung 4). Rappaport redet hier von einer geordneten adaptiven Struktur. Damit ist gemeint, dass dank der regulativen Hierarchie intern eine Anpassung der Subsysteme aneinander möglich wird. Gleichzeitig hat damit ein soziales System aber auch die Fähigkeit, sich als Reaktion auf Fluktuationen in der Umwelt zu transformieren. Dabei kann es auch zu Fehlanpassungen kommen.
Der deutsche Soziologie Niklas Luhmann (1927-1998) hat, aufbauend auf den früheren systemtheoretischen Ansätzen seines amerikanischen Kollegen Talcott
Parsons,56Zu Talcott Parsons siehe z.B. Dürrenberger 1989: 61 ff., Hauck 1988: 133 ff. und Kiss 1977, Bd.2: 144 ff.
eine Theorie sozialer Systeme entwickelt, in der er in völligem Gegensatz zu Rappaport keine hierarchische Struktur annimmt, sondern ein weitgehend beziehungsloses Nebeneinander von verschiedenen Subystemen, z.B. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Religion und Erziehung, die je einer speziellen Funktion nachkommen und somit in diesem Sinne ein durchaus reales Abbild einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft
w darstellen.57Niklas Luhmann selbst hat seine Gedanken in einer grossen Anzahl von Büchern niedergelegt. Für unsere Zwecke zentral aber sind sein allgemeines Werk "Soziale Systeme" (Luhmann 1985) und das speziell auf die ökologische Problematik bezogene Buch "Ökologische Kommunikation" (Luhmann 1990). Eine zusammenfassende Einführung in die Luhmannsche Systemtheorie gibt Walter Reese-Schäfer 1992.
Jedes Subsystem ist ein Sinnsystem. Sinn entsteht durch ein Netzwerk von aufeinander bezogenen Begriffen und Konzepten in einer Sprachgemeinschaft. So gesehen stellt jedes Subsystem eine selbständige Sprachgemeinschaft dar und gehorcht einer damit verbundenen funktionsspezifischen Logik, die jeweils auf einem binären Kode basiert (siehe dazu Tabelle 1). Damit aber ist eine Kommunikation im wesentlichen nur innerhalb der Funktionssysteme möglich und nicht zwischen ihnen. Vor allem aber gibt es auch kein Subystem, das die Gesellschaft
w insgesamt vertreten würde, was für einen zielgerichteten Umgang mit Problemen wie z.B. der Umweltproblematik ungemein erschwerend bis verunmöglichend wirkt.
Darüber hinaus beschreibt Luhmann das Operieren der Subsysteme als ein selbstreferentielles. Dazu hat er von Humberto Maturana die Idee der Autopoiese aufgegriffen (vgl. dazu 2.5.2 in "Biologische Evolution"). An die Stelle einer materiell verstandenen Selbstproduktion tritt bei Luhmann die Rekursivität von Kommunikationsereignissen: Jeder Kommunikationsvorgang produziert neue Kommunikation. Damit ist realistisch angedeutet, dass eine sinnvolle Beitragsleistung zum Bestehen der Gesamtgesellschaftw durch ein Funktionieren zum puren Selbstzweck verdrängt wird. Dies ist umso mehr der Fall, als nach der Auffassung von Luhmann die Elemente eines sozialen Systems die Kommunikationsereignisse sind, und nicht etwa die Menschen, die damit verbunden sind. Diese letzteren gehören zur Umwelt des Systems. Zu den Schlüsselaussagen von Luhmann gehört die Feststellung, dass es Systeme und eine Evolution gebe. Dies aber bedeutet, dass die menschlichen Individuen wenig Einfluss auf das Geschehen nehmen können und weitgehend zum Zuschauen verdammt sind. Eine derartige Abstraktion ist wohl für gewisse Zwecke nützlich, von einem humanökologischen Gesichtspunkt aus aber sehr unbefriedigend.