Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelte der deutsche Philosoph und Sozialwissenschaftler Karl Marx (1818-1883) seine Vorstellungen des sog. dialektischen und historischen Materialismus, die für den zukünftigen Fortgang der Weltgeschichte bedeutsam werden sollten, wenn auch grossenteils in pervertierter
Form.38Zu Karl Marx siehe z.B. Hauck 1988: 45 ff., Kiss 1977, Bd.1: 125 ff. und Aron 1968, Bd.1: 145 ff.
Sein Hauptwerk, "Das Kapital", erschien 1867; weitere Bände wurden später nach dem Tode von Marx von seinem Mitstreiter Friedrich Engels herausgegeben. In seinem Geschichtsverständnis orientierte sich Marx am deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Dieser hatte in idealistischer Auffassung die These verfochten, dass alle Dinge Ausdruck von Ideen seien. Die Ideen ändern sich aber immer wieder in ihr Gegenteil, weil sie Widersprüche in sich selbst enthalten und damit die Saat zu ihrer eigenen Zerstörung in sich tragen. Damit folgt der gesellschaftliche Wandel in dialektischer Weise aus den Widersprüchen. Marx übernahm die Vorstellung des dialektischen Prozesses, stellte aber ansonsten Hegel völlig auf den Kopf, indem er anstelle des idealistischen einen materialistischen Ausgangspunkt setzte. So ergibt sich der Geschichtsprozess aus einer Abfolge von Produktionsweisen, wobei jede ihren inneren Widerspruch mit sich führt und zu gegebener Zeit durch die nächste abgelöst wird. Diese stufenweise Entwicklung führt zum Endstadium der klassenlosen kommunistischen
Gesellschaftw.39Vgl. Harris 1978: 141 ff.
Marx behauptete allerdings nicht eine totale funktionale Abhängigkeit der nicht-materiellen von den materiellen Faktoren (dies wäre eine vulgär-materialistische Auffassung), aber schon, dass gewisse Notwendigkeiten der Gestaltung des materiellen Lebens auf dem infrastruktruellen Niveau den Entwicklungsmöglichkeiten in den Bereichen der Struktur und der Superstruktur absolute Schranken
setzen.40Vgl. Hauck 1988: 45-46.
Nach Marx gibt es drei grosse Stadien der gesellschaftlichen
Entwicklung:41Vgl. Dürrenberger 1989: 100 und 107.
Die Urgesellschaftw, Klassengesellschaftenw (dazu gehören: die antiken Sklavenhaltergesellschaften, die mittelalterlichen Feudalgesellschaften und die modernen kapitalistischen Gesellschaften) und die endgültige, klassenlose kommunistische Gesellschaft
w. Das Hauptanliegen von Marx war allerdings nicht die Entwicklung einer Evolutionstheorie, sondern eine radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, verbunden mit einem Aufruf zum Klassenkampf an das internationale Proletariat. Die Widersprüchlichkeit im kapitalistischen System gründet auf einer Polarisierung der beiden Klassen der Eigentümer und Nicht-Eigentümer von Produktionsmitteln, d.h. der Kapitalisten und der Arbeiterschaft. Die unter den Kapitalisten herrschende Konkurrenz zwingt diese andauernd zur Kapitalausweitung in Form der Adaption neuer Technologien und zur Rationalisierung der Produktionstechniken, womit Arbeitsplätze verloren gehen. Die Kapitalausweitung wird gespiesen durch eine Akkumulation des
Mehrwertes.42Der Mehrwert im Sinne von Marx: "... die Differenz zwischen dem Wert der Arbeit (= Wert der Arbeitsprodukte) und dem Wert der Arbeitskraft (= Wert der von den Arbeitern selbst zur Lebenshaltung benötigten Waren" (Hartfiel1976: 428).
Für die Seite der Arbeiterklasse bedeutet dies aber zunehmende Verelendung. Es kommt zum Widerspruch zwischen einer wachsenden Produktivkraft und einer schrumpfenden Konsumkraft. Dieser führt zu Krisen, die zunächst wieder aufgefangen werden können, schliesslich aber in einer Revolution münden, bei der es dann zur gewaltsamen "Expropriation der Expropriateure"
kommt.43Hartfiel 1976: 412.
In den marxistischen Auffassungen steckt eine merkwürdige Mischung von holistischem und atomistischem Gedankengut. Einerseits wickelt sich die kulturelle Evolution auf ein vorausbestimmtes Ziel hin ab, andererseits sind die Individuen dazu aufgerufen, sich im richtigen Zeitpunkt tatkräftig an der Revolution zu beteiligen und sie zu fördern.
Das menschliche Bewusstsein folgt im Prinzip den jeweiligen historischen Bedingungen des gesellschaftliche Seins, kann aber die realen Seinsverhältnisse in unterschiedlicher Weise begreifen und sich in der gesellschaftlichen Praxis zu konservierender oder überwindender Kraft entfalten.44Hartfiel 1976: 410.
In seinem Ansatz des sog. Kulturmaterialismus sieht auch der amerikanische Kulturanthropologe Marvin Harris den Ausgangspunkt jeglicher gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung in der materiellen Basis, also der
Infrastruktur.45Harris 1980.
Gleichzeitig möchte er sich aber gegenüber dem marxistischen Gedankengut abgrenzen. Das letztere postuliert eine vorgegebene Gesetzmässigkeit der Geschichte, während der Kulturmaterialismus von solchen "Mystifikationen" absehen und eine rein empirische Wissenschaft sein
möchte.46Harris 1980: 141 ff.
Dabei geht es um die Probleme der Produktion (Versorgung der einzelnen Menschen mit den Notwendigkeiten des Lebens, insbesondere Nahrungsmitteln) und der Reproduktion (Fortpflanzung zur Sicherung der menschlichen Gemeinschaft). Nur auf dieser Basis kann sich ein sozio-kultureller Überbau entwickeln. Dies kann einerseits bedeuten, dass die Freiheit, Nicht-Lebensnotwendiges zu tun, erst möglich ist, wenn die infrastrukturellen Probleme befriedigend gelöst sind, andererseits aber auch, dass die Existenz vieler und vielleicht gerade auffallender sozialer Strukturen von der materiellen Basis her erklärbar sind. Allerdings muss auch gesagt sein, dass Harris nicht streng mono- und linear-kausal denkt, sondern auch den Rückkopplungscharakter zwischen der Basis und dem Überbau betont. Letztlich allerdings weist er, einen hinreichend grossen geschichtlichen Zeitraum vorausgesetzt, dem Komplex der technischen, ökonomischen, demographischen und umweltmässigen Faktoren die kausale Priorität im Evolutionsprozess zu.
Um ein etwas extremes Beispiel für einen derartigen Versuch der Erklärung zu
geben:47Nach Harris 1978: 147 ff.
Im Reich der Azteken war es üblich, auf Kriegszügen gemachte Gefangene oben auf den Pyramiden den Göttern zu opfern. Nach der Opferzeremonie wurde jede Leiche die Stufen hinuntergeworfen und wanderte sodann in die Küche desjenigen Offiziers, der mit seinen Leuten das fragliche Individuum gefangen genommen hatte. Für diese blutige, kannibalistische Tradition hat Harris eine materialistische Erklärung: Durch die schon früher erfolgte Ausrottung der grösseren Jagdtiere in der Umwelt der Azteken war es zu einer Situation gekommen, in der für die Bevölkerung ein Mangel an tierischem Protein herrschte. Dieser Mangel wurde durch eben diese Tradition kompensiert.