Die zentrale These in der Giddens'schen Theorie ist die der Dualität von Handeln ("agency") und Struktur ("structure"): Individuen erhalten ihre Handlungsanleitungen aus bestehenden Strukturen, aber diese existieren nur, weil es Individuen gibt, die danach handeln. So sind die Strukturen sowohl Voraussetzung wie auch Ergebnis des menschlichen Handelns. Bei den Strukturen handelt es sich um handlungsleitende Regeln, die alle drei der oben genannten Ebenen, Infrastruktur, Struktur und Superstruktur betreffen
können.23Dies bedeutet auch, dass wir in Übereinstimmung mit dem Giddens'schen Sprachgebrauch hier alle Arten von menschlichem Tun, also auch die, die bei Ahrendt "Arbeiten" und "Herstellen" genannt werden (vgl. 2.1.2), unter dem Begriff des "Handelns" zusammenfassen. Dieser wird also im weitesten Sinne des Wortes verstanden. Auch die Tätigkeit des Denkens kann dazugezählt werden.
Sie haben generell einen immateriellen Charakter, können aber in expliziter, d.h. niedergeschriebener Form auftreten wie dies z.B. bei gesetzlichen Vorschriften der Fall ist. Häufig aber sind sie informeller Natur, d.h. sie sind als Normen im Bewusstsein der Handelnden vorhanden und wirken sich implizit auf die Art ihres Tuns aus. Regeln haben einerseits eine einschränkende Wirkung, andererseits aber sind sie auch ermöglichend, denn sie bilden die Voraussetzung für sinnvolles Tun. Wir können uns auf geltende Regeln berufen und damit auch rechtfertigen. Ein Fussballspiel, um ein Beispiel zu nehmen, kann nur durchgeführt werden, weil es Spielregeln gibt, an die sich die Spielenden halten können und müssen. Menschen müssen, wenn sie Mitglied einer Gesellschaft
w sein wollen, sich an vorgegebenen Regeln ausrichten, aber damit können sie eben auch Mitglied der Gesellschaft
w sein.
Indem Interaktionen regelkonform vor sich gehen, werden Strukturen auch reproduziert. Mit anderen Worten: Sie können nur solange existieren, wie es auch Menschen gibt, die sich daran halten. Oft lässt die genaue Art der Reproduktion aber einen gewissen Spielraum offen, d.h. mit der Befolgung von Regeln ist ein bestimmtes Mass an Interpretation verbunden. "The discursive formulation of a rule is already an interpretation of it", sagt
Giddens.24Giddens 1984: 23.
Abweichungen von den Regeln können Sanktionen nach sich ziehen, aber u.U., wenn sie wiederholt in der gleichen Art auftreten und schliesslich akzeptiert werden, auch zur Transformation von Strukturen beitragen. Ein gutes Beispiel ist die Sprache: Damit wir uns überhaupt verständigen können, müssen wir den gängigen Regeln der Grammatik und des Wortgebrauchs folgen. Das zeigt, dass gesellschaftliche (hier: sprachliche) Regeln gleichzeitig einen ermöglichenden und einen einschränkenden Aspekt aufweisen. Die Regelbefolgung geschieht aber immer nur annähernd, und dadurch verändert sich die Sprache immer auch durch ihren
Gebrauch.25Zum Sprachwandel siehe z.B. Rudi Keller 1990.
Eine Struktur ist etwas Abstraktes in dem Sinne, dass sie zwar etwas über das Verhältnis von Personen aussagt, aber nicht an bestimmte, konkrete Personen gebunden ist, d.h. gewissermassen ausserhalb der Personen existiert. Es sind zwar konkrete Personen, die durch ihr Handeln eine Struktur reproduzieren, aber sie sind ihr gegenüber auswechselbar. Ausserdem werden Menschen immer in schon bestehende Strukturen hineingeboren und mit ihnen erst im Laufe der primären und der sekundären Sozialisation vertraut gemacht. Zur primären Sozialisation zählen das Aufwachsen in der Famile und die Erziehung in der Schule, zur sekundären die spätere berufliche Ausbildung.