www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Kulturelle Evolution

3.6 Der Kreislauf von Aufstieg, Blüte und Zerfall: Toynbee

Bedeutend realistischer als die Vorstellung einer geradlinigen Entwicklung ist wohl die von einem zyklischen Auf und Ab. Zivilisationen entstehen, haben eine Zeit der Blüte, und verfallen wieder. Solche Vorgänge sind für die Vergangenheit tatsächlich dokumentiert; es handelt sich also um historische Tatsachen (siehe Beispiele in Abbildung 6). Das Auf und Ab kann unabhängig voneinander an verschiedenen Orten der Erde auftreten, oder aber natürlich in gegenseitiger Beeinflussung, etwa positiv durch die Diffusion von Innovationen, negativ durch Krieg.
Abbildung 6: Aufstiegs- und Untergangsmuster der grossen Zivilisationen im Mittelmeerraum von 3000 v.Chr. bis heute (aus Capra 1983: 22)
Abbildung 6: Aufstiegs- und Untergangsmuster der grossen Zivilisationen im Mittelmeerraum von 3000 v.Chr. bis heute (aus Capra 1983: 22)
Der englische Historiker und Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee ist vielleicht der bekannteste Vertreter einer zyklischen Auffassung von kultureller Evolution.58 Diese sieht so aus: Eine Gesellschaftw mag lange Zeit in einem statischen Zustand, einer Art Gleichgewicht, verharren. Dann aber kann es einen kreativen Übergang zu einer Dynamik geben, entweder durch Anregung spontan von innen her oder aber als Reaktion auf Impulse aus der gesellschaftlichen oder auch natürlichen Umwelt. Dadurch gerät die Gesellschaftw aus dem vorherigen Gleichgewicht, ein Zustand, der seinerseits eine Herausforderung darstellt und neue Anpassungen erfordert. Dies kann so weiterlaufen, bis eine Gesellschaftw einen Höhepunkt an "Lebenskraft" erreicht hat, worauf sie dann dazu neigt, ihre kulturelle Triebkraft zu verlieren und zu verfallen. Ein Verlust an Flexibilität wird zu einem wesentlichen Element des Zusammenbruchs. Eine solche Gesellschaftw kann dann auf Probleme keine adäquate Antwort mehr finden. Tatsächlich ist zu vermuten, dass schon in früheren Zeiten Gesellschaftenw an Umweltproblemen zugrunde gegangen sind. So vermutet der amerikanische Geograph Karl Butzer, dass das Auf und Ab der altägyptischen Zivilisationen zum Teil mit solchen Problemen zu tun hat.59 Vergegenwärtigt man sich, wie weit unsere Zivilisation des 20.Jahrhunderts ihren Aufschwung nur auf der Grundlage fossiler Brennstoffe erreichen konnte, eine Energiequelle, die im historischen Massstab gesehen bald zur Neige gehen wird, realisiert man, dass diese Zivilisation in der heutigen Form nicht überleben kann (vgl. mit Abbildung 7).
Abbildung 7: Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe im Gesamtbild der kulturellen Evolution (aus Capra 1983: 25)
Abbildung 7: Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe im Gesamtbild der kulturellen Evolution (aus Capra 1983: 25)
Zur Ergänzung sei noch darauf hingewiesen, dass Toynbee trotz eines zyklischen Verlaufs der Geschichte an eine Art von langfristigem gerichtetem Fortschritt glaubte, nämlich an eine historische Tendenz zu fortschreitender seelischer Verinnerlichung mit einem christlich bestimmten Endziel.60

Anmerkungen

58
Arnold J. Toynbee 1951.
59
Karl W. Butzer 1980.
60
Nach Bernhard Rensch 1977: 170.