Atomistische Auffassungen von Gesellschaft
w, die vom Tun der Individuen ausgehen, haben in der Neuzeit als politische und / oder ökonomische Doktrin Bedeutung erlangt. Dabei ging es darum, dieses Tun als ein möglichst freiheitliches (d.h. hier: möglichst wenig Staat), zu postulieren, also um die Forderung nach Freiheit des Bürgers (erst später auch der Bürgerin!) in seinen politischen Aktivitäten und in seiner ökonomischen Beteiligung an einem Markt. Dabei kamen aber nur selten evolutionäre Vorstellungen ins Spiel. Eine Ausnahme ist der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588-1679), der allerdings die Entstehung des Staates als eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von Gesellschaft
e und Kultur
e ansah.36Nach Hans Joachim Störig 1985: 293 ff. Zu Thomas Hobbes siehe auch z.B. Kiss 1977, Bd.1: 19 ff.
Er war nämlich der Auffassung, der Mensch sei von Natur aus ein Egoist, der sich nur um die Erhaltung seiner eigenen Existenz kümmere und dabei nach dem Besitz möglichst vieler Güter strebe. Von daher stellte sich Hobbes einen Naturzustand vor, in dem ein "Krieg aller gegen alle" herrscht. Erst wenn es gelingt, durch Übereinkunft einen Staat zu schaffen, dem sich das Individuum als einer übergeordneten Gewalt unterwirft, besteht Aussicht, dass der Mensch Rechtsschutz und Sicherheit findet. Zwischen den Staaten wird aber im Sinne eines restlichen Urzustandes weiterhin Krieg bestehen. Bei Hobbes geht es also gerade nicht um bürgerliche Freiheiten, wohl aber um eine atomistische Interpretation des menschlichen Zusammenlebens im Urzustand: Alle Menschen folgen gleichermassen einem egoistischen Urtrieb und liegen im Konkurrenzkampf miteinander. Dies erinnert irgendwie an Gasmoleküle, von denen jedes sich gleich verhält, aber auch auf einem eigenen Kurs ist, dabei auf andere Moleküle keine "Rücksicht" nimmt und deshalb mit ihnen ab und zu zusammenstösst. Hobbes sieht in der staatlichen Regulation als holistischer Lösung den Weg zur Überwindung des atomistischen Zustandes in der menschlichen Urgemeinschaft.
Im Gegensatz zu Hobbes interpretierte der Genfer Philosoph Jean Jacques Rousseau (1712-1778) den Urzustand der Menschheit als einen paradiesischen, in dem alle Individuen als Gleiche freiheitlich und friedlich nebeneinander
lebten.37Nach Störig 1985: 375 ff. Zu Jean Jacques Rousseau siehe auch z.B. Kiss 1977, Bd.1: 25 ff.
Ungleichheiten ergaben sich erst durch die Entstehung des Eigentums und staatlicher Strukturen, die zu Herrschaftsverhältnissen führten. Bei ihm stellt also das herkömmliche Staatswesen geradezu das Unheil dar, das über die Menschheit hereingebrochen ist. Die Lösung des Problems sieht er in einer von allen getragenen Konvention, einem Gesellschaftsvertrag ("contrat social"), der allen Gleichheit und möglichst grosse Freiheit garantiert, gleichzeitig aber dadurch, dass alle am gleichen Strick ziehen, einen kollektiven Willen repräsentiert. Es gibt damit eine Versöhnung zwischen Staat und Individuen, indem der zum Wohle des Zusammenlebens notwendige Umfang von staatlicher Gewalt auf freiheitlicher Übereinkunft beruht.