www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

4.1 Das Dreifachhirn

Betrachten wir zuerst die vertikale Gliederung, die auf der Theorie des Dreifachhirns ("triune brain'" des amerikanischen Hirnforschers Paul D. MacLean beruht.85 Danach besteht das menschliche Gehirn eigentlich aus drei verschiedenen Hirnen, die phylogenetisch-evolutionär gesehen ein unterschiedliches Alter aufweisen und sich auch bezüglich Chemismus, Strukturen und Funktionen unterscheiden (siehe Abbildung 13 und Tabelle 2). Insofern diese Theorie eine wichtige Grundlage für das Verständis von alten Verhaltensformen liefert, die wir von unsern evolutionären Vorfahren ererbt haben, können wir mit von Hoimar von Ditfurth von einer "Paläontologie der Seele" reden.86 MacLean seinerseits braucht die Metapher eines Fahrzeugs, das von drei verschiedenen Fahrern gesteuert wird. Entsprechend bezeichnet er die Basis, auf der sich dann die Gehirnstrukturen entwickeln, als "neurales Chassis".87 Dieses umfasst das Rückenmark und den Hirnstamm mit dem verlängerten Mark und beinhaltet den Sitz der Kontrolle über grundlegende Lebensfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Schlucken, Verdauung und Stoffwechselvorgänge.
Abb.13: Schematische Darstellung der drei ineinander verschachtelten Hirne nach der Dreifachhirn-Theorie von MacLean (aus Teegen 1985: 131)
Abb.13: Schematische Darstellung der drei ineinander verschachtelten Hirne nach der Dreifachhirn-Theorie von MacLean (aus Teegen 1985: 131)
Auf diesem "Chassis" baut die erste eigentliche Hirnanlage auf. Diese entspricht stammesgeschichtlich dem Stadium der Reptilien (Alter um die 300 Mio. Jahre) und wird damit von MacLean Reptilien-Komplex (kurz R-Komplex) genannt.88 Sie enthält erste sehr einfache Verhaltensprogramme, die mit Selbstbehauptung, Territorialität, Nahrungssuche, Vorratsbildung, Begrüssung und Bildung von sozialen Gruppen zu tun haben. Ausserdem sorgt ein Riechzentrum für eine olfaktorische Umweltorientierung. Beim Menschen schlägt sich die Vergangenheit der Reptilien in gewissen Anlagen nieder, die mit Ritualismus, Respekt für Autorität und Hackordnung zu tun haben, was Carl Sagan zur Bemerkung veranlasst: "... this seems to me to characterize a great deal of modern human bureaucratic and political behavior."89
Tabelle 2: Charakterisierungen der drei Stufen der Gehirnentwicklung
Entwicklungsstufe
Informationskodierung
(nach MacLean 1972)
Vergleich mit elektronischem Gerät
(nach MacLean 1972)
"Geist-Stufe"
(nach Jantsch 1984)
R-Komplex
Zwanghafte Handlung
Radar
Organismisch
L-System
Emotionale Gefühle
SW-Fernsehen
Reflexiv
Grosshirn
Abstrakte Gedanken
3D-Farb-Fernsehen ??
Selbstreflexiv
Dem R-Komplex sitzt die zweite Stufe der Hirnentwicklung auf, das sog. Limbische System (kurz L-System genannt); sie ist bei den älteren Säugetieren entstanden und hat somit ein stammesgeschichtliches Alter von mindestens 150 Mio. Jahren.90 Wesentliche Komponenten des L-Systems sind Zwischenhirn mit Hypothalamus und Thalamus. Der erstere ist eine wichtiges Steuerorgan für viele vegetative Vorgänge wie Wärmehaushalt, Sexualfunktionen, Kreislauf, Atem, Wasserhaushalt, Schlaf usw., der letztere bildet die Grundlage für eine Art Vorbewusstsein und ist beteiligt an der Entstehung von Emotionen. Emotionale Primärreaktionen kommen dann im Grosshirn zum Bewusstsein. "Love seems to be an invention of the mammals", sagt Sagan.91 Eine Höherentwicklung der optischen und akustischen Fernsinne auf Kosten des Riechzentrums erlaubt einen distanzierteren Umgang mit der Umwelt. Lebewesen, deren Gehirnentwicklung bis zu diesem Stadium vorgedrungen ist, verfügen über eine beschränkte Zahl von stereotypen Verhaltensprogrammen (Instinkten), die eine sinnvolle Reaktion auf normal vorkommende und für das betreffende Lebewesen wesentliche Umweltreize ermöglichen. Gleichzeitig haben sie aber auch schon eine beschränkte Kapazität für selektives Lernen, indem spezifische Elemente in eine sonst feststehende Instinktkette in der passenden Lebensphase eingebaut werden müssen.
Der grösste Hirnteil, das Grosshirn (oder der Neocortex), ist stammesgeschichtlich um die 50 Millionen Jahre alt; er ist eine Errungenschaft der jüngeren Säugetiere.92 An die Stelle fester Programme tritt nun die Möglichkeit der fast beliebigen Kombination einzelner motorischer Elemente, was ein flexibles Verhalten ermöglicht. Weiter gibt es Zellen, deren Funktion nicht a priori vorgegeben ist, d.h. gewissermassen freien Speicher. Dieser kann mit Erfahrungswissen gefüllt, aber auch wieder gelöscht werden (Vergessen). Als Folge dieser und anderer Entwicklungen entstehen neue Fähigkeiten wie Erinnern, Antizipieren, und Abstrahieren, und es kommt zur Ausbildung von dem was wir Bewusstsein und Verstand nennen. Im übrigen verfügt das Grosshirn über eine Mannigfaltigkeit von speziellen Funktionen. Einige davon werden wir unten noch erwähnen.

Anmerkungen

85
Paul D. MacLean 1973.
86
Hoimar von Ditfurth 1982: 47.
87
Siehe Jantsch 1984: 232, und Sagan 1977: 57.
88
Vgl. Richard Restak 1981: 43 ff., Jantsch 1984: 232 f. und Sagan 1977: 62 ff.
89
Carl Sagan 1977: 63.
90
Siehe Restak 1981: 47 ff., Jantsch 1984: 233 ff. und Sagan 1977: 66 ff.
91
Sagan 1977: 67.
92
Vgl. Jantsch 1984: 235 und Sagan 1977: 72 ff.