www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

3.2 Der Mensch als "sekundärer Nesthocker"

Ein auffälliges Phänomen, das den Vorgang der Menschwerdung begleitet, ist das Grössenwachstum des Gehirns (siehe dazu mehr in 4). Das hat auch seine biologischen Konsequenzen: Das Gehirn eines Affenbabys ist bei Geburt halb so gross wie das eines Erwachsenen, während die Grösse des Gehirns eines modernen Menschenkindes nur einen Drittel des späteren Volumens beträgt.73 Grösser könnte es gar nicht sein, weil sonst bei der Geburt die Schädelgrösse das Ausmass der weiblichen Beckenöffnung übersteigen würde. Die Folge ist, dass Menschenkinder im Vergleich mit anderen Primaten zu früh geboren werden: Sollte ihre Geburt in einem den Menschenaffenbabies entsprechenden Entwicklungsstadium erfolgen, müsste die Schwangerschaft beim Menschen 21 und nicht nur 9 Monate dauern. Adolf Portmann redet deshalb vom "extrauterinen Frühjahr" des Menschen.74 Tatsächlich ist denn auch das neugeborene Menschenkind hilflos und braucht intensive Pflege.
Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil es i.a. bei den Säugetieren den folgenden Zusammenhang gibt:75 Tiere auf niedrigerer Organisationsstufe (z.B. Nagetiere, Kleinraubtiere wie Marder) sind bei Geburt sog. Nesthocker, d.h. sie bedürfen eine Zeitlang der Pflege. Die Neugeborenen der Tiere mit höherer Organisationsform (z.B. Huftiere, Primaten) dagegen sind sog. Nestflüchter. Z.B. kann ein Elefantenbaby schon in der ersten Stunde nach der Geburt aufstehen und der Herde folgen. Bei den Primaten zeigen die Jungen allerdings einen Klammerinstinkt, d.h. sie klammern sich an der Mutter fest. Dies ist aber eher eine sinnvolle Schutzeinrichtung gegen die Gefährlichkeiten des Lebens als ein Zeichen einer Bewegungs- Unbeholfenheit. Katzen und Hunde nehmen bei dieser Unterscheidung von Nesthocker und Nestflüchter eine Mittelstellung ein. Man könnte nun meinen, der Mensch hätte dieses Prinzip durchbrochen und sei wieder zu einem Nesthocker geworden. Dem ist nicht so. Das lässt sich an folgendem erkennen (vgl. Abbildung 11): Bei allen höheren Säugetieren durchläuft die embryonale Entwicklung ein Stadium des Verschlusses der äusseren Sinnesorgane, also der Augenlider, des Gehörganges und der Nasenöffnungen. Die Nesthocker werden nun in einem Moment geboren, in dem dieser Verschluss noch besteht. Bei den Nestflüchtern hingegen wird dieser Zustand schon einige Zeit vor der Geburt wieder aufgehoben. Auch der Mensch folgt diesem letzteren Muster: Z.B. verwachsen im dritten Fötalmonat die Augenlider und öffnen sich am Ende des fünften Monats wieder. Wäre der Mensch ein Nesthocker, müsste er noch vorher zur Welt kommen. Portmann hat ihn deshalb auch als "sekundären Nesthocker" bezeichnet.76 Es kann kein Zweifel bestehen, dass diese Ausprägung der ersten Lebensphase des Menschen, die andere Primaten noch im Mutterschoss verbringen, für die Gehirnentwicklung bedeutsam ist, indem die Menschenkinder vielfältigen Reizen der Aussenwelt ausgesetzt sind.77 Portmann meint:
[i[Die Einsicht, dass der hilflose neugeborene Mensch ganz heimlich eigentlich eine Art Nestflüchter ist, ... wird uns helfen, das auffälligste Merkmal unseres Geburtszustandes, seine Hilflosigkeit, in ihren wahren Beziehungen zu sehen: nicht als die somatische Unreife eines Nesthockers, sondern als einen ganz besonderen Ausnahmezustand in der Gruppe der Säuger, eben den Zustand des Menschen.78
Abbildung 11: Schema, das die Tatsachen des Lidverschlusses bei Nesthockern (links), Nestflüchter (Mitte) und dem Menschen (rechts) zusammenfasst (aus Portmann 1956: 37)
Abbildung 11: Schema, das die Tatsachen des Lidverschlusses bei Nesthockern (links), Nestflüchter (Mitte) und dem Menschen (rechts) zusammenfasst (aus Portmann 1956: 37)
Wiederum für unsere Art eigentümlich ist über die Kleinkind-Phase hinaus überhaupt eine Verlängerung der Kindheit. Ihr somatischer Ausdruck findet sich z.B. in der Art und Weise, wie das Körperwachstum fortschreitet. In etwa dem Verhältnis im Unterschied der Gehirngrössen entsprechend ist das Menschenkind bei der Geburt schwerer als die Menschenaffenkinder. Bei den letzteren steigt dann die Gewichtskurve bis zum Erwachsenenalter regelmässig an, während beim Menschen zwar im ersten Jahr ebenfalls eine beträchtliche Zunahme erfolgt, dann aber bis zur Pubertät durch eine Phase verlangsamten Wachstums abgelöst wird.79 Nach Portmann ist dabei diese Langsamkeit der Entwicklung nicht bloss eine somatische Grundsituation, sondern ein Korrelat zur "weltoffenen Existenzweise des Menschen" (vgl. dazu 1.3.1). Und damit verbunden sind die Möglichkeiten einer verstärkten Intensität menschlicher Sozialität und des Spracherwerbs:
Die langsame Periode beginnt, sobald die somatische und die psychische Voraussetzung für die Aufnahme der vielseitigen sozialen Verhältnisse geschaffen ist, d.h. nach dem ersten Lebensjahre, wenn die Elemente der menschlichen Haltung, Sprache und Handlungsweise vorliegen.80

Anmerkungen

73
Leakey 1994: 46.
74
Siehe Adolf Portmann 1956, 68 ff. Vgl. auch Walter Böckmann 1979: 113 ff.
75
Vgl. Portmann 1956: 29 ff.
76
Portmann 1956: 56.
77
Vgl. Wills 1993: 262.
78
Portmann 1956: 38-40.
79
Siehe Portmann 1956: 49 ff.
80
Portmann 1956: 93.