www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

1.1 Der Mensch: Krone der Schöpfung oder Laune des Zufalls?

Die von Darwin begründete Evolutionstheorie gilt als "zweite Beleidigung", die dem Selbstverständnis des Menschengeschlechts zugefügt worden ist. Der Mensch ist nun nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern ein Lebewesen unter vielen anderen, die aus den durch Zufallsereignisse gesteuerten biologischen Evolution hervorgegangen sind. Die "erste Beleidigung" kam durch die sog. kopernikanische Wende zustande, die neue Sicht von Nikolaus Kopernikus (1473-1543), die aus der Erde als Zentrum des kosmischen Geschehens bloss einen die Sonne umlaufenden Planeten machte. Die "dritte Beleidigung" sodann wird mit Sigmund Freud (1856-1939) in Verbindung gebracht, der einen Menschen postulierte, der nicht ein durchwegs rational denkendes und handelndes, sondern ein dunklen Triebkräften unterworfenes Wesen ist. Dies alles war natürlich ein harter Schlag für jegliche Vorstellung, die gerne den Menschen als Endzweck der kosmischen bzw. irdischen Entwicklung gesehen hätte. Tatsächlich war eine solche Vorstellung wohl immer die hauptsächliche Motivation für die verschiedenen holistischen Perspektiven zum Evolutionsgeschehen. Die neuzeitliche Naturwissenschaft hingegen hat versucht, mit derartigen metaphysischen Spekulationen aufzuräumen und sich nach Möglichkeit nur am Faktischen zu orientieren, und sie hat im Zuge dieser Bemühungen mit einer gewissen gegenpoligen Logik oft eine extreme atomistische Gegenposition vertreten. Nun zeigen aber gerade die naturwissenschaftlich eruierbaren Fakten, dass nur geringe Abweichungen in den Naturgesetzlichkeiten und den daraus folgenden natürlichen Bedingungen im Kosmos und dann auf der Erde die Entstehung von Leben und damit auch des Menschen verunmöglicht hätten. Dieser Umstand setzt natürlich Fragezeichen und regt zu Interpretationen an. Eine aus solchen Überlegungen entstandene wiederum holistische Sichtweise gründet auf dem sog. anthropischen Prinzip. Dieses besagt folgendes: Angesichts der sonstigen Unwahrscheinlichkeit unserer Entstehung deutet die Tatsache unserer Existenz darauf hin, dass das Universum auf uns hin angelegt ist, was dann auch heissen muss, dass dem Geschehen eine geistige, planende Instanz zugrunde liegt.1 Z.B. meint Freeman Dyson:
I do not feel like an alien in this universe. The more I examine the universe and study the details of its architecture, the more evidence I find that the universe in some sense must have known that we were coming.2
Dies steht in absolutem Gegensatz zu der auf dem Duo von Zufall und Notwendigkeit aufbauenden Position des französischen Molekularbiologen Jacques Monod, der jeglichen "Animismus" aus unserem Denken über die Welt verbannen möchte:
Es ist schon richtig, dass die Wissenschaft die Wertvorstellungen antastet. ... sie zerstört alle mythischen oder philosophischen Ontogenien, auf denen für die animistische Tradition ... die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote beruhen sollten. Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiss nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.3
Ich denke wir tun gut daran, in beiden Richtungen Bescheidenheit zu üben. Mit andern Worten: Massen wir uns nicht an, wir wüssten entweder, welches der Endzweck des evolutionären Geschehens, oder aber dass dieses Geschehen ein sinnloses sei. In einer vermittelnden relationalen Perspektive können wir uns vorstellen, dass die Dinge sich zwar nicht nach einem festen, vorgegebenen Plan entwickeln, dass aber phasenweise und situationsabhängig immer wieder kreative Kräfte frei werden, die sich mit einer gewissen Zielgerichtetheit entfalten können.

Anmerkungen

1
Für eine Kritik des anthropischen Prinzips siehe Stephen Jay Gould 1986: 392 ff.
2
Freeman Dyson 1979, zitiert nach Gould 1986: 394.
3
Jacques Monod 1979: 150-151.