www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

1.4.2 Soziobiologie

Die Soziobiologie sieht das, was wir als sozio-kulturelle Entwicklung des Menschen betrachten, schlicht als etwas an, das sich grossenteils auf ein biologisches Substrat reduzieren bzw. daraus erklären lässt. Dieses ist als stammesgeschichtliche Anpassung an ein vorkulturelles Leben entstanden und ist eine Konstante, um die wir nicht herumkommen. Der amerikanische Biologe Edward O. Wilson hat mit dieser Idee 1975 als einer "Neuen Synthese" Furore gemacht.30 Hansjörg Hemminger hat das Anliegen von Wilson so beschrieben:
... nichts weniger wollte Wilson erreichen als eine Synthese aller bisherigen wissenschaftlichen Aussagen über den Menschen und die menschliche Kultur, und dies auf den Grundlagen einer strikt darwinistischen Evolutionstheorie. Seine Synthese sollte, wie er ausdrücklich betont, die bisherigen Aussagen der Psychologie, der Soziologie und der Philosophie teils überflüssig machen und teils als Spezialsätze in die Biologie integrieren.31
Insbesondere soll das soziale Verhalten des Menschen auf dieser Grundlage erklärbar sein. Nehmen wir das Beispiel des altruistischen Verhaltens. In einer darwinistischen Welt des egoistischen Überlebenskampfes macht ein solches zunächst keinen Sinn. Die Soziobiologie versucht aber das Gegenteil zu zeigen: Altruismus bezieht sich auf Verwandte (sog. Verwandtenselektion), und diese haben ja z.T. dieselben Gene. Es geht nicht um das Überleben von Individuen, sondern um das von Genen. Und Wilson bleibt nicht beim Verhalten stehen, sondern dehnt seine Theorie auch auf ästhetische Urteile und religiöse Überzeugungen aus.
Wilsons Ideen wurden in der Presse aufgegriffen und diskutiert und sie fanden in den USA erstaunlicherweise vielfach ein positives Echo. Die Kritik blieb allerdings auch nicht aus. Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz betrachtet Leute, die zusammenhängende "grosse Theorien" postulieren, speziell, wenn es den sozialen Bereich betrifft, schlicht als grössenwahnsinnig. Die Soziobiologie ist nach ihm ein derartiges Beispiel und er nennt sie "that curious combination of common sense and common nonsense ..."32 Tatsächlich, man kann damit Unfug treiben. So nennt Hemming eine Fernsehsendung im Jahre 1983, in der Hoimar von Ditfurth über Ähnlichkeiten im Verhalten eineiiger Zwillinge berichtete und dabei - es ist schwer zu glauben - die Tatsache, dass zwei Zwilllingsbrüder unabhängig voneinander die gleiche, relativ seltene Zahnpastamarke benutzten, als Beispiel für die Erblichkeit von Verhaltensweisen betrachtete.33 Die Soziobiologie lässt sich aber am besten auf die folgende Weise ad absurdum führen: Wenn das menschliche Handeln tatsächlich biologisch determiniert ist, dann ist ja die natürliche Umwelt letztlich selbst daran schuld, wenn sie jetzt vom Menschen zerstört wird. Sie hat ja die Gene ausgelesen, die das gegenwärtig bewirken.
Ein Thema ist schon lange vor Wilsons "Neuer Synthese" immer wieder in soziobiologischer Manier abgehandelt worden, nämlich das der menschlichen Aggressivität. So hatte schon Sigmund Freud die Existenz eines Todestriebes postuliert, der darauf zurückzuführen wäre, dass das Leben aus toter Materie entstand und nun die Tendenz hat, wieder in diesen Zustand zurückzukehren. Um der Selbstzerstörung zu begegnen, wird die destruktive Energie in nach aussen wirkende Aggression umgewandelt.34 Später vertrat der amerikanische Schriftsteller Robert Ardrey die These, der Mensch stamme von räuberischen "killer apes" ab und so sei seine alte Affinität für Krieg und Waffen das natürliche Resultat eines damals erworbenen tierischen Instinktes.35 Sekundiert wurde er in neuerer Zeit durch den deutschen Biologen Hans Mohr, der annimmt, dass in der langen urgeschichtlichen Zeit, in der die werdenden Menschen als Horden von Wildbeutern lebten, aggressives Verhalten ganz einfach einen Selektionsvorteil hatte und sich damit genetisch verankern konnte. Er schreibt:
Der blutige Kampf ums Dasein erfolgte zwischen den Gruppen und ihrer feindlichen Umwelt, und vor allem zwischen den Sozietäten selbst. Alle günstigen ökologischen Nischen waren seinerseits besetzt. Die Tragekapazität war erreicht. ... Unter diesen Rahmenbedingungen entstand unser Verhaltensrepertoir, entstanden unsere Verhaltensstrategien. Daraus folgt zwangsläufig, dass Hass und Aggression, die Neigung zum Töten, dem Menschen angeboren sind.36
Sicher ist anzunehmen, dass jene Zeit, die 99% der menschlichen Evolution ausmacht, einen genetischen Niederschlag gefunden hat. Aber wir könnten uns mit guten Gründen ein gegenteiliges Szenario vorstellen: Die Aggressiven, wenn es denn solche gab, brachten sich gegenseitig um, während sich die Friedfertigen abseits hielten und am Ende als einzige überlebten. Wenn überhaupt, gab es höchstens am Ende des Paläolithikums keinen Platz mehr zum Ausweichen. Kulturanthropologische Daten von bis heute lebenden archaischen Gesellschaften (wir annehmen an, dass dies die beste Vergleichsquelle ist, die wir haben) legen übrigens den Schluss nahe, dass die diese Lebensweise pflegenden Menschen keineswegs besonders aggressiv sind.37

Anmerkungen

30
Edward O. Wilson 1975.
31
Hansjörg Hemminger 1983: 8.
32
Siehe Clifford Geertz 1983: 21.
33
Hemming 1983: 32.
34
Nach Josef Rattner 1979: 24-25.
35
Robert Ardrey 1961.
36
Hans Mohr 1983: 16-17.
37
Wolfgang Schmidbauer 1973: 257-258.