www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

1.4.1 Philosophische Anthropologie

Die Unmöglichkeit der durchgehenden wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens Mensch greift Carl Friedrich von Weizsäcker auf:
Ein herrschendes Paradigma einer umfassenden wissenschaftlichen Anthropologie hat es bisher nicht gegeben. Es hat zersplitterte Einzelwissenschaften mit anthropologischen Fragestellungen gegeben. Fragen wir überhaupt nach einer umfassenden Anthropologie, so philosophieren wir bereits.24
Dies eben führt zur philosophischen Anthropologie. Was sollen wir uns darunter vorstellen? Alexander Ulfig beschreibt sie so:
Die philosophische Anthropologie ... ist ... eine breit angelegte Besinnung auf den Menschen, seinen Unterschied zum übrigen Seienden, auf seine Stellung in der gesamten Wirklichkeit und seine Beziehung zur Welt. Da sich der Mensch zur gesamten Welt verhält, geht er mit ein in die Deutungen aller Weltphänomene. Die philosophische Anthropologie knüpft oft an die einzelwissenschaftlichen Aussagen über den Menschen an; besonders wichtig sind hier die Ergebnisse aus den traditionellen Naturwissenschaften, der Psychologie, Geschichtswissenschaft und aus den Sprachwissenschaften. Anhand der Ergebnisse der Einzelwissenschaften wird versucht, ein Menschenbild zu entwerfen. Die Fragen, die in der Anthropologie gestellt werden, sind u.a. die nach der Freiheit, Individualität, Sozietät, Geschichtlichkeit des Menschen.25
Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auf grössere Details einzutreten. Es sei nur ein wichtiger Punkt herausgegriffen, der oben antönt in der Aussage, dass sich der Mensch zur gesamten Welt verhalte. Wir haben es hier mit dem zu tun, was in der philosophischen Diskussion die "Weltoffenheit" des Menschen genannt wird. Betrachten wir, was Portmann dazu sagt:
Es entspricht der geringen Entwicklung vorgebildeter instinktiver Verhaltensweisen beim Menschen, dass uns als Lebensraum nicht eine bestimmte Umwelt, kein bestimmter Naturausschnitt zugeordnet erscheint. Es gibt keine Umwelt für den Menschen, wie man sie für ein Tier meistens angeben kann ... Unserer ganzen Danseinsart entspricht es im Gegenteil, in irgendeinem von Menschen aufgesuchten Naturbereiche sich eine besondere 'Welt' zu schaffen, sie aufzubauen aus Naturbeständen, die durch menschliches Tun umgeformt worden sind. Im Gegensatze zu den Veränderungen, welche ja auch vom Tier in seiner Umgebung vorgenommen werden können und die stets nur ein durch instinktives Schaffen umgeformtes Stück der festgelegten 'Umwelt' sind, erfolgt der menschliche Eingriff in freier Entscheidung im ganzen Bereich des Zugänglichen und mit der steten Einbeziehung auch des sinnenmässig unzugänglichen Weltbereiches. ... Heissen wir das Gebaren der Tiere 'umweltgebunden', so müssen wir das der Menschen 'weltoffen' nennen.26
Es kommt hier ein im Menschen aktiv werdendes geistiges Prinzip zum Ausdruck. Als Biologe hat Portmann wohl eine integrative Sicht hinsichtlich der Natur-Geist-Frage. Aus der Philosophie sind aber auch Positionen bekannt, die die völlige Verschiedenheit des Geistes von der Natur behaupten. Ein Beispiel ist Max Scheler (1874-1928). In seinem letzten Werk, "Die Stellung des Menschen im Kosmos"27, beschreibt er den Menschen als ein Wesen, das nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern "umweltfrei" oder, positiv ausgedrückt, eben "weltoffen" sei. Er lebe nicht in einer Umwelt, sondern er habe Welt.28 Wolfgang Stegmüller schildert diese Auffassung von Scheler folgendermassen:
Das Tier, auch das intelligenteste, steckt immer in einer bestimmten Umweltstruktur, in der ihm nur das Triebrelevante als Widerstandszentrum für sein Verlangen und Verabscheuen gegeben ist. Der Geist dagegen befreit sich von diesem Druck des Organischen, zersprengt die enge Umweltschale, an die Stelle der Umweltgebundenheit tritt Freiheit von ihr: 'Weltoffenheit'. Daher werden die Dinge jetzt in ihrem vom Triebzustand des Betrachters unabhängigen Dasein und Sosein erfassbar. Damit gewinnt erstmals ein lebendes Wesen Zugang zum Reich idealer Wesenheiten, welche gleichsam das Fenster ins Absolute bilden, ... Als Korrelat zum Gegenstandsbewusstsein bildet sich das Selbstbewusstsein, die Fähigkeit aktiv-bewusster Rückwendung auf sich selbst.29

Anmerkungen

24
Carl Friedrich von Weizsäcker 1977: 17.
25
Alexander Ulfig 1993: 33.
26
Portmann 1956: 64-65.
27
Max Scheler 1928.
28
Nach Hans Joachim Störig 1985: 615.
29
Wolfgang Stegmüller 1978: 127-128.