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3.4 Das Leib-Seele-Problem

Das Leib-Seele-Problem brachte der Philosoph René Descartes (1596-1650) bekanntlich mit seiner dualistischen These vom Gegensatz zwischen den materiellen Dingen, den res extensa, und der Seele, der res cogitans, ins Gespräch. Zunächst vertrat er bezüglich des Funktionierens von Organismen eine mechanistische Auffassung. Er glaubte, in Anlehnung an Aristoteles, der aus dem Herzen zum Gehirn entsandte Blutstrom diene der Erzeugung von animalischen Geistern, die dann von dort in die Nervenbahnen gelangten, um auf den Körper einzuwirken. In diesem Sinne waren die Organismen Maschinen, die animalischen Geister der Luft vergleichbar, die durch die Pfeifen einer Orgel zirkuliert. Dem Menschen aber schrieb Descartes zusätzlich eine (unsterbliche) Seele mit Sitz in der Zirbeldrüse zu, und er sah diese in Wechselwirkung mit den animalischen Geistern (Changeux 1984).
Die Entstehung der modernen Wissenschaften erlebte dann eine Aufspaltung in zwei Lager, das der Materialisten und das der Mentalisten (s. dazu die ausführliche Diskussion bei Roger Sperry 1985). Nach materialistischen Vorstellungen kommt das Primat dem Gehirn zu, Seele oder Geist sind lediglich Epiphänomene der sich in ihm abspielenden physiologischen Vorgänge. So vertrat 1824 der französische Arzt und Philosoph Pierre Jean Georges Cabanis die Meinung, Gedanken seien eine Absonderung des Gehirns, so wie die Galle eine Ausscheidung der Leber ist. Auch heute noch neigen namhafte Neurobiologen (z.B. Changeux 1984) durchaus einer derartigen Auffassung zu. "Naturwissenschaftler [die eine solche materialistische Position vertreten] können das Gehirn als komplexes elektrochemisches, mit Nervenimpulsleitungen und anderen kausal gerichteten chemischen und physikalischen Phänomenen vollgepfropftes Kommunikationssystem betrachten, in dem alle Elemente durch fundierte Gesetze der Physik, Chemie, Physiologie und soe weiter bewegt werden" (Sperry 1985).
Mit der mentalistischen Position ist umgekehrt die Behauptung verknüpft, Psyche, Geist oder Bewusstsein (oder wie man das nennen will) übten die Kontrolle über die physikalischen und chemischen Vorgänge im Gehirn aus. Sperry (1985) selbst bezeichnet sich als Mentalisten. Genauer genommen vertritt er aber eine Auffassung, die man wiederum als beispielhaft für eine wissenschaftliche Position betrachten kann, die sich innerhalb eines evolutionären Weltbildes entwickelt (vgl. mit "Wandel des Weltbildes"). In diesem Sinne gibt es (mindestens) zwei Realitätsebenen, die eine der materiellen Vorgänge im Gehirn, die andere des Bewusstseins, und die beiden stehen miteinander in kausaler Wechselwirkung. Mit andern Worten, die Erscheinung des Bewusstseins ist ein emergentes Phänomen mit eigener emergenter Kausalität. "Geist und Bewusstsein werden gewissermassen auf den Fahrersitz verfrachtet; sie geben die Befehle und stossen und zerren die physiologischen, physikalischen und chemischen Prozesse genau so herum, wie diese sie dirigieren, wenn nicht noch mehr" (Sperry 1985).
Im folgenden betrachten wir zwei Aspekte von Struktur und Organisation des menschlichen Gehirns, die eine wichtige biologische Grundlage für eine Diskussion des Mensch-Umwelt-Verhältnisses sein dürften, nämlich die "vertikale" Dreigliederung der ganzen Gehirnanlagen und die "horizontale" Zweiteilung des Grosshirns. Wir stützen uns damit einerseits auf Lokalisierungsbefunde, weisen aber auch darauf hin, dass letztlich immer auch das ganzheitliche Zusammenwirken der Teile wichtig ist.