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Lebensstil

Lebensstil

1. Begriffliches: Lebensstandard, Lebensqualität, Lebensstil
2. Gesellschaftliche und psychologische Hintergründe
2.1 Einheit und Vielfalt, Freiheit und Zwang
Der Mensch ist ein instinktarmes und damit flexibles und anpassungsfähiges, kurz “weltoffenes” Lebewesen (vgl. 3.3 in “Bewusstsein”). An die Stelle der orientierenden Anleitung durch Instinkte tritt die durch kulturell festgelegte Normen. Die genannte Flexibilität hat dazu beigetragen, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte sehr verschiedenartige Kulturen entstanden sind, jede mit der ihr eigenen menschlichen Lebensform, einem geordneten Muster menschlichen Erfahrens und Handelns, das sich auf alle drei Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Infrastruktur, Struktur und Superstruktur, vgl. 1.2 in “Kulturelle Evolution”) bezieht. Heute aber stellen wir global eine Tendenz zur Vereinheitlichung fest, denn die dominante Lebensform der westlichen Zivilisation breitet sich immer weiter aus. Es besteht die Gefahr, dass auch die letzten noch bestehenden Reste vorindustrieller Gesellschaften mit ihren Eigenheiten für immer verschwinden. Z.B. ist die Lebensform der !Kung San, deren traditionelle Aspekte - die noch bis zum Beginn der 70er Jahre mehr oder weniger intakt waren - wir verschiedentlich kennengelernt haben (siehe 4.3 in “Soziales”, 3.1 in “Politisches” und 2.1 in “Ökonomisches”), heute offenbar in rascher Veränderung begriffen. Der Ethnologe John E. Yellen hat darüber berichtet.1
Siehe John E. Yellen 1990.
Danach haben ab Mitte der 70er Jahre Gruppen von Buschleuten begonnen, ihre Lebensweise der der benachbarten Bantu anzugleichen, d.h. sesshaft zu werden und Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Einige der Auswirkungen: Nur noch wenige Knaben lernen zu jagen, Pfeile und Bogen werden immer mehr für Souvenirzwecke hergestellt, an die Stelle der traditionellen Bekleidung mit Tierfellen treten industrielle Massenprodukte, die herkömmlichen Grashütten machen festeren Lehmhütten Platz, es entwickelt sich eine Geldwirtschaft, externe Güter werden verfügbar. Diese Entwicklung hat offenbar dramatische soziale Konsequenzen, deren Charakteristik von Yellen in einer figürlichen Darstellung wiedergegeben wird (siehe Abb.1). Die traditionelle solidarische Ausrichtung auf das Kollektiv wird durch zunehmenden Individualismus und die Idee von Privatbesitz verdrängt. Die herkömmliche Formation der Hütten betont die soziale Gemeinschaft: Sie sind mehr oder weniger kreisförmig angeordnet, sie stehen nahe beieinander, ihre Öffnungen zeigen nach innen und die Herde, auf denen gekocht wird und die Orte sozialer Interaktionen sind, stehen vor den Hütten. Mit der neuen Lebensweise aber ändert sich das Bild: Die Hütten stehen jetzt viel weiter auseinander, sind verschieden orientiert, gelegentlich sogar durch einen Zaun umgeben und haben den Herd zum Teil ins Innere der Behausung verlagert. Dort finden sich nun auch häufig Truhen, in denen die Bewohner und Bewohnerinnen ihre “Reichtümer”, den Blicken anderer entzogen, aufbewahren. Die !Kung holen gewissermassen die neolithische Revolution mit all ihren Konsequenzen nach.
Abbildung 1: Die Anordnung der Hütten in einem Trockenzeit-Lager der !Kung in traditioneller Form links und in der heute überhand nehmenden sozial aufgelösten Form rechts (aus Yellen 1990, 78)
Abbildung 1: Die Anordnung der Hütten in einem Trockenzeit-Lager der !Kung in traditioneller Form links und in der heute überhand nehmenden sozial aufgelösten Form rechts (aus Yellen 1990, 78)
Allerdings gibt es nicht nur eine Tendenz zur Vereinheitlichung, sondern auch eine solche zum Pluralismus, und zwar innerhalb der westlichen Gesellschaft. Diese zeichnet sich ja dadurch aus, dass sich in der Nachkriegszeit im Gefolge von mehr Wohlstand, mehr freier Zeit und der Ablösung traditioneller Sozialmilieus durch eine sozialstaatliche Absicherung die im Alltag möglichen Handlungs- und Gestaltungsspielräume enorm vergrössert haben. Entsprechend gibt es auch eine Vielfalt verschiedener Werthaltungen. Dabei sind etliche Gruppierungen fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen und lassen sich durch gewisse Elemente derselben bereichern.2
Vgl. Annette Spellerberg 1992, 1, und Hillmann 1989, 40.
“Bei vereinfachender Betrachtung laufen somit zwei verschiedenartige Wandlungsprozesse gegeneinander: Tendenzen einer binnengesellschaftlichen Pluralisierung der Lebensformen und zugleich solche einer weltweiten Vereinheitlichung.”3
Hillmann 1989, 40.
Wenn oben von der “dominanten Lebensform” der westlichen Zivilisation die Rede war, so ist gemeint, dass es auch bei aller Vielfalt der Lebensstile bei den meisten Varianten - es gibt also auch Ausnahmen - doch einige gemeinsame Charakteristika gibt, die ihre Assoziation mit der ökonomischen Gesellschaft nicht verleugnen können. Dazu gehören wohl etwa die Ausrichtung am Individualismus, das Hochhalten des Leistungs- und Wettbewerbsprinzips, der Glaube an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, ein monetäres Denken und eine Orientierung an materiellem Konsum, alles mehr oder weniger ausgeprägt, wohlverstanden. Es ist deshalb nicht falsch, den westlichen Lebensstil ungeachtet all seiner Fazetten als im allgemeinen verschwenderisch zu bezeichnen. Dabei entspringt nicht alles eigenem Antrieb, sondern wird von aussen durch die Mechanismen des Wirtschaftssystems manipuliert: “Fortwährend angetrieben durch eine psychologisch raffinierte Werbung neigt der Wettkampf um Konsumerfolge zum Unersättlichen.”4
Hillmann 19089, 42.
Diesem Vorgang steht im Hintergrund die Idee des unentbehrlichen Wirtschaftswachstums Pate und das Ganze präsentiert sich dann als ein Geflecht von Sachzwängen, wie schon Max Weber mit seiner Beschreibung der Wirtschaftsordnung, die
heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen - mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist,5
Max Weber 1963, 203.
erkannt hat. Neben den neuen Handlungsspielräumen gibt es also auch neue Zwänge und Anforderungen. An die Seite verstärkter Unabhängigkeit tritt auch das Gefühl, bloss ein “Rädchen im Getriebe” zu sein.6
Vgl. Diewald 1990, 16, und Hillmann 1989, 44.
Früher zeichnete sich jede soziale Schicht, jede Klasse, jeder Stand durch eine spezifische Lebensweise aus, die in ausgesprochenem Masse Teil der Selbstdarstellung des betreffenden gesellschaftlichen Segmentes war. Dazu konnte in den reichen Kreisen auch ein demonstrativ zur Schau getragener, verschwenderischer Konsum gehören.7
Das ist nicht sehr verschieden von der conspicuous consumption, wie wir sie für hawaiianische Häuptlinge der voreuropäischen Zeit festgestellt haben (vgl. 3.4 in “ Politisches”). Vgl. Hillmann 1989, 41-42.
War früher das Leben eines Menschen kraft seiner Geburt oder Herkunft weitgehend vorgespurt, haben sich heute infolge der wachsenden sozialen Mobilität die einstigen Grenzen aufgelöst. Aber natürlich ist dadurch nicht eine homogene Einkommensverteilung entstanden, sondern die sozio-ökonomischen Unterschiede sind beträchtlich und haben die Tendenz, sich zu vergrössern. Die Schichtung, die dadurch entsteht, manifestiert sich vor allem auch in unterschiedlichen Umwelteffekten in Form von Ressourcenkonsum und Abfallproduktion. Tab.1 zeigt ein Beispiel aus den USA.
Tabelle 1: Der durchschnittliche jährliche Umwelteffekt von ausgewählten Lebensstilen amerikanischer Haushalte. Recycling: Im englischen Original heisst es Active Recyclers (nach Ernest Callenbach 1990, 14, aufgrund von Angaben von Michael Phillips)
Haushalttyp
Bäume
Zahl
Wasser
hl
Luftschad-
stoffe
kg
Pestizide
kg
Mineralien
kg
Energie l Erdöläqui-
valente
Abfall
kg
Oberste 20% der Einkommen
Mittelwert
8,61
30 946
1 182
4,81
22 910
29 455
39 728
Kinderlos
6,03
21 662
828
3,37
16 038
20 621
27 810
Ohne Auto
8,18
28 780
118
2,14
6 873
11 783
36 152
Fleischlos
8,18
18 568
1 159
3,13
17 183
27 983
35 755
Recycling
8,27
30 327
1 182
4,81
21 765
29 455
36 947
Mittlere Einkommen
Mittelwert
4,10
19 341
591
2,67
9 164
15 503
19 864
Kinderlos
2,87
13 539
414
1,87
6 415
10 851
13 905
Ohne Auto
3,90
17 987
59
2,62
2 749
6 200
18 077
Fleischlos
3,90
11 605
579
1,74
6 873
15 503
17 878
Recycling
3,94
19 148
591
2,67
8 706
14 727
18 474
Unterste 20% der Einkommen
Mittelwert
2,46
13 539
296
1,87
4 582
6 200
11 918
Kinderlos
1,72
9 477
207
1,31
3 208
4 341
8 343
Ohne Auto
2,34
12 591
29
1,83
1 375
2 479
10 846
Fleischlos
2,34
8 123
289
1,21
3 436
5 889
10 727
Recycling
2,36
13 404
296
1,87
4 353
6 200
11 084
2.2 Werte
2.3 Bedürfnisse
3. Überlegungen zu einem neuen Lebensstil
3.1 Vom Haben zum Sein
3.2 Zur Möglichkeit eines Wertwandels
3.3 Das Kriterium der Nachhaltigkeit
4. Die biophysische Beurteilung von Lebensstilen
4.1 Das Konzept des ökologischen Fussabdrucks
4.2 Das Konzept des Umweltraums
5. Von unten her kommen wir in Bewegung
5.1 Der "Global Action Plan" (GAP)
5.2 Die Volksinitiative zur Verkehrshalbierung des Vereins "umverkehR"
Zitierte Literatur