www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Ökonomisches

2.1 "Arbeit" in archaischen Wildbeutergesellschaften

Nach dem, was wir in 1.2 über das heutige Verständnis des Begriffs der Arbeit gesagt haben, und dem, was wir über die archaischen Gesellschaften schon wissen, dürfte es klar sein, dass wir ihn hier eigentlich in Anführungszeichen setzen müssen. Neigen wir dagegen der Arendtschen Auffassung von Arbeit zu, dann ist die archaische Situation eine, in der die mit dieser Auffassung verbundene Bedeutung im vollsten und direktesten Sinne zutrifft.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass in der Ethnologie die Auffassung bestand, eine archaische Lebensweise sei gleichbedeutend mit einem unaufhörlichen Überlebenskampf in einem doppelten Sinne: In der Form kriegerischer Auseinandersetzungen mit benachbarten Gruppen einerseits und in der Form stets prekärer Nahrungsversorgung andererseits. Dass die erstere dieser Vorstellungen unzutreffend ist, haben wir in 4.2 von “Soziales i.e.S.” und in 2.2 von “Politisches” schon festgestellt. Dass letzteres ebenso nicht stimmt, ist in der neueren ethnologischen Literatur inzwischen ebenfalls dokumentiert worden, so z.B. ausführlich von Marshall Sahlins, der die Wildbeuter-Gesellschaft geradezu “the original affluent society”, d.h. die ursprünglich wohlhabende Gesellschaft nennt.19 Damit soll ausgedrückt sein, dass Nahrung im allgemeinen im Überfluss vorhanden ist und ein sorgenfreies Dasein ermöglicht. Diese Situation ist dadurch erklärbar, dass archaische Gruppen mit ihrer geringen Bevölkerungsgrösse unterhalb der Tragfähigkeit der Umwelt leben, d.h. die vorhandenen Nahrungsressourcen also nie voll nutzen (vgl. Tab.1). Diese Erkenntnis ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil diese Gesellschaften ja fast ausnahmslos in ökologisch benachteiligten Randgebieten mit z.T. extremen Verhältnissen wie Wüsten (Beispiele: Buschleute, australische Aborigines), tropischen Regenwäldern (Beispiel: Mbuti) und Polargebieten (Beispiel: Inuit) überlebt haben bzw. in diese abgedrängt worden sind. Wir können uns somit vorstellen, dass die Lebensgrundlagen für die Menschen in vorgeschichtlicher Zeit noch um einiges besser waren.
Tabelle 1: Schätzungen und Beobachtungen über verfügbare Flächen bei verschiedenen archaischen Gesellschaften (nach Boyden 1987, 61, und Campbell 1985, 48, 72, 156)
Art der Gesellschaft
Verfügbare Fläche in km2 pro Person
Hominide in Afrika vor 2 Mio. Jahren
4 - 200
Altsteinzeit-Menschen in Frankreich
55
Australische Ureinwohner (Wüste)
10 - 200
Nordamerikanische Prärieindiander
20 - 25
Buschleute der südlichen Kalahari-Wüste
5 - 25
Hadza (Savanne in Tansania)
6
Mbuti-Pygmäen (Regenwald im Kongo)
4
Hier können vielleicht die in der Nähe des Viktoria-Sees in Tansania lebenden Hadza als Beispiel dienen, weil sie in für Wildbeuter-Gesellschaften untypischer Form in einer Umwelt leben, die aus fruchtbarer Savanne besteht. Diese bietet einen derartigen Überfluss an Nahrung, dass sie gelegentlich beim Auftreten von Missernten bei ihren ackerbaulich ausgerichteten Nachbarn diese gewissermassen in “Pension” nehmen.20
In 3.1 und 4.1 von “Soziales i.e.S.” haben wir die bis vor einigen Jahrzehnten anerkannte These erwähnt, dass die Lebensweise der Hominiden und daran anschliessend die der archaischen Menschen von der Jagd geprägt gewesen sei. Inzwischen wissen wir, dass dies nicht stimmt, jedenfalls für die bis heute existierenden archaischen Gesellschaften nicht. Im allgemeinen dominiert die pflanzliche die tierische Kost bei weitem; in klimatisch begünstigten Gebieten kann das Verhältnis 2:1 bis 4:1 betragen. Z.B. stammen bei den !Kung San in Südafrika im Durchschnitt 67%, bei den Mbuti-Pygmäen im Kongo 70% und bei den Hadza in Tansania 80% der Kalorien aus vegetabiler Nahrung.21 Damit ist der Rythmus des Lebens auch mehr durch die täglichen und jahreszeitlichen Wanderbewegungen geprägt, die durch die Sammeltätigkeit entstehen. Einen Spezialfall bilden die Inuit, die, unter den extremen Bedingungen, unter denen sie leben, sich fast ausschliesslich von Fleisch ernähren.22 Mit wenigen Ausnahmen23 ist die geschlechtliche Arbeitsteilung - Frauen gehen sammeln, Männer jagen - ein universelles Phänomen. Es wird normalerweise nicht mehr Nahrung beschafft als im Moment notwendig ist; es gibt also keine Vorratshaltung. Dies hat einmal damit zu tun, dass im allgemeinen ein Nahrungsüberangebot vorhanden ist.24 Mit anderen Worten es herrscht ein Zustand der Unterproduktion: Es könnte ein Surplus produziert werden, aber die Leute hören zu arbeiten auf, wenn sie glauben, für die momentane Versorgung genug getan zu haben.25 Zum zweiten ist aber Vorratshaltung auch deshalb unmöglich, weil der nomadische Lebensstil sie nicht gestattet. Das Anlegen von Vorräten würde das Lager für längere Zeit an einen bestimmten Ort binden, und dies könnte bedeuten, dass sich die natürlichen Nahrungsquellen in der Zwischenzeit erschöpfen. Ausserdem können Vorräte bei den Wanderungen nicht mitgetragen werden. Die Frauen sind oft mit Kleinkindern belastet und die Männer halten sich möglicherweise sowieso frei, um beim plötzlichen Auftauchen von jagdbarem Wild rasch reagieren zu können.26
Eine Konsequenz der für “the original affluent society” typischen Lebensumstände ist die, dass die Nahrungssuche nicht eine ständige, sondern eine unregelmässige, nicht-kontinuierliche Tätigkeit ist: Auf 1-2 Tage “Arbeit” folgen 1-2 Tage Ruhe (siehe dazu Abb.1). Dabei sind die Frauen, jedenfalls wenn die meist übliche Arbeitsteilung zutrifft, regelmässiger beschäftigt als die Männer. Typische Werte für die von der “arbeitsfähigen” Bevölkerung zur Nahrungsbeschaffung aufgewendete Zeit sind durchschnittlich etwa 3 Stunden pro Kopf und Tag bei den !Kung-Buschleuten und 4-5 Stunden bei australischen Wildbeutern im Arnhem-Land.27 Für die !Kung gilt überdies, dass der von einer Person betriebene Aufwand zur Sicherung des Lebensunterhaltes genügend Nahrung für 4-5 Leute produzieren kann. Tatsächlich geht auch immer nur ein Teil der Bewohner eines Lagers auf Nahrungssuche und was diese dann abends heimbringen, wird auf die ganze Gruppe verteilt. Die mit der Sicherung des Lebensunterhaltes verbundenen Tätigkeiten werden nicht als unangenehm empfunden und auch nicht so lange wie möglich aufgeschoben. Andererseits aber will man sich auch nicht mehr als nötig anstrengen, und die beschäftigungslose Zeit wird auf gesellige Weise genussvoll verbracht. Von den Hadza, bei denen die Männer nicht mehr jagen als unbedingt nötig, sagt Sahlins: “Hadza men seem much more concerned with games of chance than with chances of game.”28 Er bezieht sich dabei auf eine Studie von James Woodburn, in der dieser schildert, wie die Hadza-Männer ihre Zeit mit Glücksspielen verbringen, bei denen sie ihre Jagdpfeile mit Metallspitzen setzen.29 Es ist auch bemerkenswert, dass die Hadza, obschon sie ringsum von Ackerbau-Gesellschaften umgeben sind, sich weigern, die neolithische Revolution nachzuholen. Sie können bei ihren Nachbarn beobachten, dass diese weit härter arbeiten als sie selbst und sehen keinen Grund, ihren Überfluss an freier Zeit aufzugeben.30 Von Arbeit in unserem Sinne kann also bei archaischen Gesellschaften nicht die Rede sein, sie ist eindeutig eine “Erfindung” der späteren kulturellen Entwicklung. Bezeichnenderweise gibt es im Sprachschatz der Wildbeuter auch kein allgemeines Wort für Arbeit, sondern nur spezielle Wörter für verschiedene Arten von Tätigkeiten.31
Abbildung 1: Anzahl Stunden pro Tag, die von einer Frau (ausgezogene Linie) und einem Mann (gestrichelte Linie) der Fish Creek-Gruppe der australischen Ureinwohner während einer 14-tägigen Periode zur Nahrungsbeschaffung aufgewendet wurden. Für die Frau ergibt sich ein Durchschnitt von 3 Stunden und 44 Minuten pro Tag, für den Mann von 3 Stunden und 50 Minuten (nach McCarthy und McArthur 1960, aus Sahlins 1976, 15)
Abbildung 1: Anzahl Stunden pro Tag, die von einer Frau (ausgezogene Linie) und einem Mann (gestrichelte Linie) der Fish Creek-Gruppe der australischen Ureinwohner während einer 14-tägigen Periode zur Nahrungsbeschaffung aufgewendet wurden. Für die Frau ergibt sich ein Durchschnitt von 3 Stunden und 44 Minuten pro Tag, für den Mann von 3 Stunden und 50 Minuten (nach McCarthy und McArthur 1960, aus Sahlins 1976, 15)
Die Lebensweise von Wildbeuter-Gruppen ist nomadisch, allerdings nicht unbedingt so, dass sie sich jeden Tag in einem andern Gebiet aufhalten würden. Meist wird die Nahrungsgewinnung von einem temporären Lager aus betrieben, das, wenn die Ressourcen innerhalb des von ihm aus erreichbaren Raumes erschöpft sind, an einen anderen Ort verlegt wird. Betrachten wir als Beispiel den jährlichen Wanderungszyklus, wie er für die !Kung typisch ist. Um diesen zu verstehen, zunächst aber einige Angaben zu den Charakteristika ihres Lebensraumes: Die klimatischen Verhältnisse zeichnen sich aus durch einen heissen Sommer mit einer 5-monatigen Feuchtzeit von November bis März, einem kühlen trockenen Winter von April bis August und einem heissen trockenen Frühling September bis Oktober. Die Tagestemperaturen schwanken zwischen 16 und 38 °C im Frühling und Sommer und zwischen -1 und 26 °C im Winter. Die jährliche Niederschlagsmenge bewegt sich innerhalb einer Spannweite von 15 bis 25 cm. Die Landoberfläche besteht aus losen Sandböden, auf denen erstaunlich viel Vegetation wächst. Dort, wo das darunter liegende Kalkgestein zutage tritt, kommen permanente Wasserlöcher vor. Während der Feuchtzeit gibt es zusätzlich auch temporäre Wasserstellen anderswo. Die Verteilung dieser Wasservorkommen ist der wichtigste ökologische Faktor, der die räumliche Verteilung der !Kung bestimmt. Die pflanzlichen Ressourcen sind von sekundärer, die Wildvorkommen von gänzlich untergeordneter Bedeutung. Die Lager der !Kung sind also dort zu finden, wo Wasser vorhanden ist.32 Von ihnen aus wird die Umgebung nach Nahrung abgesucht nach dem Prinzip: “At a given moment, the members of a camp prefer to collect and eat the desirable foods that are at the least distance from standing water.”33 Es gibt rund 200 Pflanzen- und 220 Tierarten, die die !Kung kennen und auch benennen. Davon bezeichnen sie 85 Pflanzen- und 54 Tierarten als essbar, wobei aber von den letzteren nur 10 Säugetierarten regelmässig gejagt werden. Hauptnahrung ist die Mongongo-Nuss (Ricinodendron rautanenii Schinz), sie macht die Hälfte bis zwei Drittel aller pflanzlichen Nahrung nach Gewicht aus.34
Abbildung 2: Der jährliche Wanderungszyklus einer Buschleute-Gruppe mit dem jeweils von einem Standort aus genutzten Raum (nach Carlstein 1982, 89)
Abbildung 2: Der jährliche Wanderungszyklus einer Buschleute-Gruppe mit dem jeweils von einem Standort aus genutzten Raum (nach Carlstein 1982, 89)
Nun aber zum Migrationszyklus (siehe dazu Abb.2). Während der Feuchtzeit gliedert sich eine !Kung-Gruppe auf der Basis von Grossfamilien oder evtl. auch Kernfamilien in kleinere Einheiten, die sich auf die verschiedenen vorhandenen Wasserstellen verteilen, von wo aus die Umgebung nach Nahrung abgesucht wird. Dies geschieht zuerst in der Nähe, dann innerhalb eines langsam grösser werdenden Radius. Wenn die innerhalb eines Tages zurückzulegenden Distanzen zu gross werden, wird das Lager zu einer neuen Wasserstelle verlegt. Zu solchen Verschiebungen kommt es alle fünf bis sechs Wochen. Während der trockenen Jahreszeit vereinigt sich dann die Gruppe wieder und etabliert ein Lager in der Nähe eines permanenten Wasserloches, wo sich allenfalls auch Lager von anderen Gruppen befinden. Dieser Ort wird dann bis zum Anfang der nächsten Feuchtzeit nicht mehr verlassen. Während der ersten Hälfte dieser Aufenthaltsdauer wird jeweils noch genügend Nahrung in kleinerer Entfernung vom Lager vorhanden sein. Probleme treten erst in der zweiten Hälfte auf, indem dann zum Teil ungewöhnlich grosse Distanzen zur Nahrungsbeschaffung zurückgelegt werden müssen.35

Anmerkungen

19
Siehe Marschall Sahlins 1976, 1 ff.
20
Siehe Bernard Campbell 1985, 75-76.
21
Nach Campbell 1985, 48, 74, 152.
22
Vgl. Boyden 1987, 67, und Campbell 1985, 134 ff.
23
Z.B. stellen die Agta in Nordost-Luzon (Philippinen) eine solche dar, indem dort auch die Frauen auf die Jagd gehen (siehe dazu Agnes Estioko-Griffin und P. Bion Griffin 1981).
24
Siehe Boyden 1987, 69 f.
25
Vgtl. Klaus Eder 1980, 42.
26
Vgl. Sahlins 1976, 10-11.
27
Nach Richard B. Lee 1984, 37, und Sahlins 1976, 15-16, der letztere mit Bezug auf F.D. McCarthy und M. McArthur 1960.
28
Sahlins 1976, 27
29
Siehe James Woodburn 1968.
30
Vgl. Sahlins 1976, 27. Wie Campbell (1985, 77) berichtet, sind aber die meisten Hadza auf Intervention der tansanischen Regierung in der Mitte der 1960er Jahre sesshaft geworden; das Ziel war, sie zu einer Lebensweise als Bauern zu bewegen.
31
So z.B. berichtet von Jean Liedloff (1983, 23-24) für die Yequana-Indianer in Venezuela.
32
Vgl. Lee 1969, 55-56.
33
Lee 1969, 59-60.
34
Nach Lee 1969, 59-59.
35
Nach Lee 1969, 60-61.