Hier können vielleicht die in der Nähe des Viktoria-Sees in Tansania lebenden Hadza als Beispiel dienen, weil sie in für Wildbeuter-Gesellschaften untypischer Form in einer Umwelt leben, die aus fruchtbarer Savanne besteht. Diese bietet einen derartigen Überfluss an Nahrung, dass sie gelegentlich beim Auftreten von Missernten bei ihren ackerbaulich ausgerichteten Nachbarn diese gewissermassen in “Pension”
nehmen.20Siehe Bernard Campbell 1985, 75-76.
In 3.1 und 4.1 von “Soziales i.e.S.” haben wir die bis vor einigen Jahrzehnten anerkannte These erwähnt, dass die Lebensweise der Hominiden und daran anschliessend die der archaischen Menschen von der Jagd geprägt gewesen sei. Inzwischen wissen wir, dass dies nicht stimmt, jedenfalls für die bis heute existierenden archaischen Gesellschaften nicht. Im allgemeinen dominiert die pflanzliche die tierische Kost bei weitem; in klimatisch begünstigten Gebieten kann das Verhältnis 2:1 bis 4:1 betragen. Z.B. stammen bei den !Kung San in Südafrika im Durchschnitt 67%, bei den Mbuti-Pygmäen im Kongo 70% und bei den Hadza in Tansania 80% der Kalorien aus vegetabiler
Nahrung.21Nach Campbell 1985, 48, 74, 152.
Damit ist der Rythmus des Lebens auch mehr durch die täglichen und jahreszeitlichen Wanderbewegungen geprägt, die durch die Sammeltätigkeit entstehen. Einen Spezialfall bilden die Inuit, die, unter den extremen Bedingungen, unter denen sie leben, sich fast ausschliesslich von Fleisch
ernähren.22Vgl. Boyden 1987, 67, und Campbell 1985, 134 ff.
Mit wenigen
Ausnahmen23Z.B. stellen die Agta in Nordost-Luzon (Philippinen) eine solche dar, indem dort auch die Frauen auf die Jagd gehen (siehe dazu Agnes Estioko-Griffin und P. Bion Griffin 1981).
ist die geschlechtliche Arbeitsteilung - Frauen gehen sammeln, Männer jagen - ein universelles Phänomen. Es wird normalerweise nicht mehr Nahrung beschafft als im Moment notwendig ist; es gibt also keine Vorratshaltung. Dies hat einmal damit zu tun, dass im allgemeinen ein Nahrungsüberangebot vorhanden
ist.24Siehe Boyden 1987, 69 f.
Mit anderen Worten es herrscht ein Zustand der Unterproduktion: Es könnte ein Surplus produziert werden, aber die Leute hören zu arbeiten auf, wenn sie glauben, für die momentane Versorgung genug getan zu
haben.25Vgtl. Klaus Eder 1980, 42.
Zum zweiten ist aber Vorratshaltung auch deshalb unmöglich, weil der nomadische Lebensstil sie nicht gestattet. Das Anlegen von Vorräten würde das Lager für längere Zeit an einen bestimmten Ort binden, und dies könnte bedeuten, dass sich die natürlichen Nahrungsquellen in der Zwischenzeit erschöpfen. Ausserdem können Vorräte bei den Wanderungen nicht mitgetragen werden. Die Frauen sind oft mit Kleinkindern belastet und die Männer halten sich möglicherweise sowieso frei, um beim plötzlichen Auftauchen von jagdbarem Wild rasch reagieren zu
können.26Vgl. Sahlins 1976, 10-11.
Eine Konsequenz der für “the original affluent society” typischen Lebensumstände ist die, dass die Nahrungssuche nicht eine ständige, sondern eine unregelmässige, nicht-kontinuierliche Tätigkeit ist: Auf 1-2 Tage “Arbeit” folgen 1-2 Tage Ruhe (siehe dazu Abb.1). Dabei sind die Frauen, jedenfalls wenn die meist übliche Arbeitsteilung zutrifft, regelmässiger beschäftigt als die Männer. Typische Werte für die von der “arbeitsfähigen” Bevölkerung zur Nahrungsbeschaffung aufgewendete Zeit sind durchschnittlich etwa 3 Stunden pro Kopf und Tag bei den !Kung-Buschleuten und 4-5 Stunden bei australischen Wildbeutern im
Arnhem-Land.27Nach Richard B. Lee 1984, 37, und Sahlins 1976, 15-16, der letztere mit Bezug auf F.D. McCarthy und M. McArthur 1960.
Für die !Kung gilt überdies, dass der von einer Person betriebene Aufwand zur Sicherung des Lebensunterhaltes genügend Nahrung für 4-5 Leute produzieren kann. Tatsächlich geht auch immer nur ein Teil der Bewohner eines Lagers auf Nahrungssuche und was diese dann abends heimbringen, wird auf die ganze Gruppe verteilt. Die mit der Sicherung des Lebensunterhaltes verbundenen Tätigkeiten werden nicht als unangenehm empfunden und auch nicht so lange wie möglich aufgeschoben. Andererseits aber will man sich auch nicht mehr als nötig anstrengen, und die beschäftigungslose Zeit wird auf gesellige Weise genussvoll verbracht. Von den Hadza, bei denen die Männer nicht mehr jagen als unbedingt nötig, sagt Sahlins: “Hadza men seem much more concerned with games of chance than with chances of
game.”28Sahlins 1976, 27
Er bezieht sich dabei auf eine Studie von James Woodburn, in der dieser schildert, wie die Hadza-Männer ihre Zeit mit Glücksspielen verbringen, bei denen sie ihre Jagdpfeile mit Metallspitzen
setzen.29Siehe James Woodburn 1968.
Es ist auch bemerkenswert, dass die Hadza, obschon sie ringsum von Ackerbau-Gesellschaften umgeben sind, sich weigern, die neolithische Revolution nachzuholen. Sie können bei ihren Nachbarn beobachten, dass diese weit härter arbeiten als sie selbst und sehen keinen Grund, ihren Überfluss an freier Zeit
aufzugeben.30Vgl. Sahlins 1976, 27. Wie Campbell (1985, 77) berichtet, sind aber die meisten Hadza auf Intervention der tansanischen Regierung in der Mitte der 1960er Jahre sesshaft geworden; das Ziel war, sie zu einer Lebensweise als Bauern zu bewegen.
Von Arbeit in unserem Sinne kann also bei archaischen Gesellschaften nicht die Rede sein, sie ist eindeutig eine “Erfindung” der späteren kulturellen Entwicklung. Bezeichnenderweise gibt es im Sprachschatz der Wildbeuter auch kein allgemeines Wort für Arbeit, sondern nur spezielle Wörter für verschiedene Arten von
Tätigkeiten.31So z.B. berichtet von Jean Liedloff (1983, 23-24) für die Yequana-Indianer in Venezuela.