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Politisches

Politisches

1. Begriffliches
1.1 Zum Begriff des Politischen
1.2 Zum Begriff der Macht
2. Von der archaischen zur politischen Gesellschaft
2.1 Stufen der Transformation von egalitären zu herrschaftlichen Gesellschaften
2.2 Politische Aspekte von archaischen lokalen Gruppen
2.3 Politische Aspekte von Stammesgesellschaften
2.4 Politische Aspekte von Häuptlingstümern
2.5 Ausblick auf politische Aspekte von stratifizierten und staatlichen Gesellschaften
3. Fallbeispiele für die Entwicklungsstufen
3.1 Die !Kung San als Beispiel für archaische lokale Gruppen
3.2 Die Tsembaga als Beispiel für eine Stammesgesellschaft
Die Tsembaga sind eine rund 200 Personen umfassende Territorialgruppe, die dem Maring-Sprachkreis im Innern Neuguineas angehört. Sie sind auf fünf patrilineare Clans verteilt, welche sich auf zwei weiteren hierarchischen Ebenen unterhalb der Ebene der Gesamt-Lokalgruppe zu grösseren Einheiten zusammenfinden. Die interne politische Struktur wird von Roy A. Rappaport, der die Tsembaga untersucht hat, als äusserst egalitär bezeichnet. Es gibt keine Häuptlingspositionen und auch keine sog. "grossen Männer", die regelmässig Clangenossen um sich scharen könnten.109
In anderen Fällen gibt es aber nach Sahlins (1968, 53) bei den territorialen Clans Neuguineas big men, die als Repräsentanten von Subclans oder Clans fungieren.
Über die lokale Gruppe hinaus reicht die Verwandtschaftsstruktur i.a. nicht bzw. interessiert nicht, wohingegen es schon zu wechselnden Allianzbeziehungen zwischen lokalen Gruppen kommen kann.110
Vgl. Roy A. Rappaport 1973, 223-225.
So sind die Tsembaga zwar eine für die Verhältnisse von Neuguinea typische Erscheinung, sonst aber im globalen Vergleich eine nicht sehr typische Stammesgesellschaft, jedenfalls umfangmässig bedeutend kleiner und organisatorisch einfacher als etwa die von Sigrist beschriebenen afrikanischen segmentären Gesellschaften.111
Siehe Sigrist 1979.
Sahlins redet in diesem Fall von "territorialen Clans".112
Vgl. Sahlins 1968, 52 f.
Die Tsembaga betreiben Gartenbau mit Buschbrache, also eine Art von Brandrodungs-Wanderfeldbau mit verschiedenen Wurzelpflanzen, Gemüsen, Zuckerrohr und Baumfrüchten. Sie halten auch Schweineherden mit wechselnder Populationsgrösse.113
Siehe Rappaport 1973, 227 ff.
Rappaport wendet sich gegen eine in der Ethnologie vorherrschende Auffassung, vertreten z.B. durch George C. Homans,114
Siehe George C. Homans 1941.
wonach rituelle Handlungen nur eine auf die innere Verfassung einer Gesellschaft gerichtete, disziplinierende und vertrauenbildende Funktion hätten und keine Wirkung in der Ausswelt erzielten. Er möchte am Beispiel der Tsembaga zeigen, dass ein ritueller Zyklus sehr wohl in der Lage ist, die Beziehungen der Gruppe zur biophysischen Umwelt wie auch zu benachbarten ähnlichen Territorialgruppen zu regulieren. Die Beschreibung dieses Zyklus kann, da er sich immer wiederholt, an irgendeinem Punkt beginnen. Rappaport findet, dass dessen Durchführung am deutlichsten werde, wenn die Schilderung bei den Ritualen, die während eines Krieges beobachtet werden, beginne.
Die Gegner bewohnen in allen Fällen angrenzende Territorien ... Nachdem Feindseligkeiten ausgebrochen sind, führt jede Seite gewisse Rituale durch, welche die gegnerische Seite in die formale Kategorie des Feindes versetzen. Während die Kampfhandlungen andauern, wird eine Anzahl von Tabus beobachtet. Diese umschliessen Verbote auf den Sexualverkehr und das Einnehmen gewisser, von Frauen zubereiteter Speisen sowie von Lebensmitteln, die auf den niedrigliegenden Teilen des Territoriums geerntet wurden, ... und jedweder Flüssigkeit, wenn man sich im Kampfgebiet befindet. ...115
Rappaport 1973, 233.
Unmittelbar vor dem Gang zum Kampffeld essen die Krieger stark gesalzenes Schweinefett. Die Einnahme von Salz, zusammen mit dem Verbot des Trinkens, hat die Wirkung, den Kampftag abzukürzen, besonders da die Maring es vorziehen, nur an hellen, sonnigen Tagen zu kämpfen. ... Kämpfe konnten sporadisch für Wochen dauern. Gelegentlich endeten sie mit der Niederlage einer der antagonistischen Gruppen, deren Überlebende Zuflucht bei Verwandten anderswo suchten. In solchen Fällen verwüsteten die Sieger die Haine und Gärten ihrer Gegner, schlachteten ihre Schweine und verbrannten ihre Häuser. Sie annektierten jedoch nicht unmittelbar das Territorium der Besiegten. Die Maring sagen, dass sie niemals das Land eines Feindes übernehmen, denn, selbst wenn es aufgegeben ist, bleiben die Geister ihrer Ahnen dort, um es gegen Eindringlinge zu bewachen. Die meisten Kämpfe enden jedoch mit einem Wafffenstillstand zwischen den Gegnern.116
Rappaport 1973, 234.
Mit der Beendigung der Feindseligkeiten führt eine Gruppe, die nicht von ihrem Territorium vertrieben wurde, ein Ritual, "Pflanzen des rumbin" genannt,117
Beim rumbin handelt es sich botanisch um Cordyline fruticosa, nach Rappaport 1973, 234
durch. ... Dieses Ritual wird von einem allgemeinen Schlachten von Schweinen begleitet. Nur Jungtiere bleiben am Leben. Alle erwachsenen und halbwüchsigen Tiere werden getötet, gekocht und den Ahnen geweiht. Einige werden von der Lokalgruppe verzehrt, aber die meisten werden an die Verbündeten, die im Krieg halfen, verteilt. Einige der Tabus, welche die Gruppe während der Kampfzeit beobachtete, werden durch dieses Ritual aufgehoben. Der Geschlechtsverkehr ist wieder erlaubt, Flüssigkeiten können jederzeit getrunken sowie Nahrung aus allen Teilen des Territoriums genossen werden. Aber die Gruppe ist noch bei ihren Verbündeten und Ahnen in Schuld. Die Leute sagen, es ist noch die Zeit des bamp ku, ... eine Zeit der Schulden und Gefahr, sie dauert, bis der rumbin ausgegraben und das Schweinefest (kaiko) abgehalten ist.118
Rappaport 1973, 234-235.
Gewisse Tabus gelten für die Zeit ... Beuteltiere, die als Schweine der Ahnen der Höhenlagen gelten, dürfen nicht gefangen werden, bis die Schuld an ihre Herren bezahlt ist. Aale, die Schweine der Ahnen auf niedrigen Lagen, dürfen weder gefangen noch verzehrt werden. ... eine Gruppe darf keine andere Gruppe angreifen, solange die rituelle Pflanze im Boden ruht. ... Eine Art "Gottesfrieden" herrscht ..., bis der rumbin ausgegraben und das kaiko beendet ist. Um den rumbin auszugraben, braucht man genügend Schweine. ... Die Tsembaga sagen, wenn ein Platz "gut" ist, dauert dies nur fünf Jahre; ist aber ein Platz "schlecht", dauert es zehn Jahre oder länger. ... Auf einem guten Platz übertrifft der Zuwachs der Schweineherde die laufenden rituellen Forderungen ... Früher oder später genügen die beim Ernten nebenbei gewonnenen, minderwertigen Knollen nicht mehr, um die Herde zu ernähren, und zusätzliches Areal muss ... unter Bearbeitung genommen werden. ... Eine grosse Herde ist nicht nur lästig, was den Energieverbrauch betrifft; sie wird zunehmend eine Plage durch ihr Wachstum. Je zahlreicher die Schweine werden, desto häufiger werden die Gärten von ihnen heimgesucht. Solche Ereignisse führen zu ernstlichen Störungen des örtlichen Friedens.119
Rappaport 1973, 235-237.
Das kaiko oder Schweinefest, ... wird daher entweder durch die zusätzliche Arbeit beim Füttern der Schweine oder durch die zerstörerischen Fähigkeiten der Schweine selbst ausgelöst. ... Eine kurze Zeit vor dem Ausgraben des rumbin werden Pfähle an der Grenze eingesetzt. Wenn der Feind sein Territorium weiterbewohnt, werden sie an der Grenze aufgestellt, die vor dem Kampf bestand. Falls aber der Feind sein Territorium aufgegeben hat, errichten die Sieger die Pfähle entlang der neuen Grenze, die nun ein Gebiet umfasst, das früher vom Feind besetzt war. ... Nicht nur haben die Besiegten ihr Territorium aufgegeben, es wird angenommen, dass es auch von ihren Ahnen aufgegeben ist. ... Bei dieser Gelegenheit töteten die Tsembaga 1963 32 Schweine aus ihrer Herde von 169. Der grösste Teil des Fleisches wurde an Verbündete und Verwandte ausserhalb der örtlichen Gruppe verteilt. Das Tabu gegen das Fangen von Beuteltieren wurde ebenfalls um diese Zeit aufgegeben. ... Das kaiko dauert ungefähr ein Jahr; während dieser Zeit werden befreundete Gruppen von Zeit zu Zeit eingeladen. Die Gäste erhalten Geschenke ... und die Gastgeber und männlichen Gäste tanzen zusammen die Nacht durch. ... Den jungen Frauen wird eine Auswahl von heiratsfähigen Männern der örtlichen Gruppe vorgestellt, mit denen sie anderweitig keine Gelegenheit hätten bekannt zu werden. ... Das massierte Tanzen der Besucher bei der kaiko-Unterhaltung gibt den Gastgebern, während der rumbin-Waffenstillstand noch in Kraft ist, Informationen über das Ausmass der Unterstützung, die sie von den Gästen in den kriegerischen Unternehmen erwarten dürfen, die sie wahrscheinlich bald nach Beendigung des Schweinefests beginnen werden. ... die Maring sagen, dass, wer zum Tanz kommt, zum Krieg kommt. ... Am Morgen verwandelt sich der Tanzboden in einen Handelsplatz. Die Gegenstände, die am meisten getauscht werden, sind Äxte, Vogelfedern, Muschelornamente ... Das kaiko ermöglicht daher den Handel ... Das kaiko wird mit einem grossen Schweineopfer abgeschlossen. Bei dieser Gelegenheit schlachteten die Tsembaga 105 erwachsene und halbwüchsige Schweine ... Das ... gewonnene Fleisch wurde auf etwa 3000 bis 4000 kg geschätzt, wovon zwischen 2000 und 3000 kg an Mitglieder anderer Lokalgruppen ... verteilt wurden. ... Das kaiko endete am Tag des Schweineschlachtens mit der öffentlichen Übergabe von gesalzenem Schweinebauch an Verbündete des letzten Krieges. ... Das Schweinefest und der rituelle Zyklus sind nun abgeschlossen ... 120
Rappaport 1973, 238-241.
Abbildung 6: Das rituell gesteuerte Ökosystem der Tsembaga, Neuguinea (nach Weichhart 1986, 69, aufgrund von Angaben bei Rappaport 1967 und 1979, sowie Bodley 1976).
Abbildung 6: Das rituell gesteuerte Ökosystem der Tsembaga, Neuguinea (nach Weichhart 1986, 69, aufgrund von Angaben bei Rappaport 1967 und 1979, sowie Bodley 1976).
Nun kann das Ganze mit neuen Kampfhandlungen wieder von vorne beginnen bzw. könnte - heute versucht die australische Regierung, solche Feindseligkeiten zu unterdrücken. Die Tsembaga selbst sagen, dass sie den rituellen Zyklus durchführen, um die Beziehungen mit der übernatürlichen Welt zu ordnen. Aus einer externen Perspektive gesehen sind aber, so Rappaport, die auf dieser Grundlage konstruierten Vorstellungen über die Umgebung der biophysischen wie auch der sozialen Umwelt in einem praktischen Sinne durchaus angemessen.121
Vgl. Rappaport 1973, 233.
Er meint deshalb, diese Vorgänge demonstrierten, dass die örtliche Bevölkerung über eine ökologische und ökonomische Kompetenz verfüge; man könne das Ganze als ein "rituell reguliertes Ökosystem" betrachten.122
Vgl. Rappaport 1973, 241 und 244.
Peter Weichhart hat versucht, wesentliche seiner Wirkungsbeziehungen in graphischer Form darzustellen (siehe Abb.6). In Worten hat Rappaport seine Effekte wie folgt zusammengefasst:
... die Durchführung des Rituals ... trägt dazu bei, eine nicht abgenutzte Umwelt zu erhalten, beschränkt Kriege auf Häufigkeiten, welche die Existenz der regionalen Populationen nicht gefährden, es adjustiert das Verhältnis von Menschen und Land, erleichtert den Handel, verteilt örtliche Überschüsse an Schweinen in der Form von Fleisch innerhalb der regionalen Population und gewährt den Leuten Protein von hoher Qualität, wenn sie es am nötigsten brauchen.123
Rappaport 1973, 244.
In neuerer Zeit ist nun allerdings Jürg Helbling in einer Neuinterpretation der vorliegenden Fakten zum Schluss gekommen, dass die Logik dieser Rituale keineswegs einen ökologischen Gehalt habe, sondern rein politisch motiviert sei und damit auch das Potential zur Umweltschädigung in sich berge.124
Siehe Helbling 1992, 213 ff. Vgl. auch Helbling 1993 und 1994.
Er schreibt:
Schweineakkumulation und Allianzfeste ... dienen den Lokalgruppen ... dazu, Alliierte zu mobilisieren, bei der Stange zu halten und dadurch ihre militärische Kapazität zu vergrössern. Es müssen so viel Schweine wie möglich akkumuliert werden, da die Lokalgruppen um die Unterstützung von Alliierten konkurrieren ... Die Akkumulation und inflationäre Produktion von Schweinen ... sind also politisch sowohl notwendig als auch rational ...; ökonomisch hingegen sind sie suboptimal und ökologosch tendenziell schädlich.125
Helbling 1994, 90-91.
Ich vermute, dass es sich hier zum Teil um Auffassungs- und Interpretationsdifferenzen handeln könnte. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist ja die politische Dimension noch stark in die übrige gesellschaftliche Struktur integriert und so dürfte eigentlich auch erwartet werden, dass die zur Anwendung gelangende Rationalität nur teilweise einem politischen Kalkül folgt. Das schliesst allerdings nicht aus, dass schon in einem solchen Stadium Umweltschäden auftreten können.
3.3 Die Irokesen als Beispiel für ein matrizentrisches Häuptlingstum
3.4 Die Hawaiianer als Beispiel einer stratifizierten Gesellschaft
4. Hypothesen zur Entstehung politischer Gesellschaften
4.1 Endogene Hypothesen
4.1.1 Die Überschuss-Hypothese von Gordon V. Childe
4.1.2 Die Redistributions-Hypothese von Elman R. Service
4.1.3 Die hydraulische Hypothese von Karl A. Wittfogel
4.1.4 Die Privateigentums-Hypothese von Friedrich Engels
4.2 Exogene Hypothesen
4.2.1 Die Begrenzungs-Hypothese von Robert L. Carneiro
4.2.2 Die Eroberungs-Hypothese von Herbert Spencer, Friedrich Ratzel u.a.
4.2.3 Die Notzeiten-Hypothese von Max Weber
5. Freiheit und Liberalismus
5.1 Freiheit als Willkür versus Freiheit in Verantwortung
5.2 Negative versus positive Freiheit
5.3 Die "Tragödie des Liberalismus"
6. Demokratie und Ökologie
6.1 Staatsversagen
6.2 Politischer Kommunitarismus
6.3 Ökologischer Kommunitarismus
6.3.1 Spirituelle Entwicklung der Individuen
6.3.2 Politische Dezentralisierung und Selbstbestimmung
6.3.3 Bioregionale Organisation
7. Zur ökologischen Gesellschaftsutopie
7.1 Allgemeines
7.2 "bolo'bolo": Ein konkreter Entwurf
Zitierte Literatur