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Politisches

Politisches

1. Begriffliches
1.1 Zum Begriff des Politischen
1.2 Zum Begriff der Macht
2. Von der archaischen zur politischen Gesellschaft
2.1 Stufen der Transformation von egalitären zu herrschaftlichen Gesellschaften
2.2 Politische Aspekte von archaischen lokalen Gruppen
2.3 Politische Aspekte von Stammesgesellschaften
2.4 Politische Aspekte von Häuptlingstümern
Wie in Tab.1 dargestellt, fasst Fried die beiden Stufen der Stammesgesellschaften und der Häuptlingstümer zu einer Kategorie zusammen, die er Ranggesellschaft nennt. Diese charakterisiert er im Gegensatz zu einer archaischen Gesellschaft wie folgt:
A rank society is one in which positions of valued status are somehow limited so that not all those of sufficient talent to occupy such statuses actually achieve them.70
Fried 1967, 109.
Wie mir scheint, ist allerdings diese Beschreibung auf die gerade besprochenen Stammesgesellschaften mit ihrem immer noch egalitären Charakter kaum anwendbar. Dagegen passt sie auf die Häuptlingstümer, in denen es, wie der Name andeutet, als Folge einer zentralisierenden Tendenz nun permanente Häuptlingspositionen gibt und ausserdem die Organisation nach dem Verwandtschaftsprinzip eine Hierarchisierung erfährt. Es gibt also Rangfolgen, aber noch keine Schichtung von der Art, dass verschiedene Segmente der Bevölkerung unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen hätten - dies ist dann erst beim Gesellschaftstyp der Fall, den Fried "stratifiziert" nennt. Auf alle Fälle aber können wir das Häuptlingstum als eine weiterentwickelte Fortsetzung der Stammesgesellschaft sehen, und zwar so, dass die tribale Kultur hier nicht verschwindet, sondern ihren am weitesten entwickelten Ausdruck findet. Zwar kommt es zur Ausbildung von regionalen politischen Regimes unter mächtigen Häuptlingen mit schon einer primitiven Form von Adel, so dass einige hier von frühpolitischen oder gar von vorstaatlichen Gesellschaften reden, aber, dies ist das Entscheidende, noch existieren keine eigentlichen Herrschafts- und keine Klassenverhältnisse, mit anderen Worten keine regierende Elite, die exklusiv über die Produktionsmittel verfügt und politischen Zwang ausüben kann, und damit gibt es auch keine unterdrückte Unterklasse.71
Vgl. Sahlins 1968, 20, 24.
Gegenüber der segmentären Stammesgesellschaft, in der im Prinzip alle Abstammungsgruppen einer Ebene gleichgestellt sind und ausserdem die Hierarchie aufwärts zu grösseren Einheiten nur vorübergehend im Falle von Konflikten zum Ausdruck kommt, etabliert das Häuptlingstum mittels einer administrativen Struktur über die verschiedenen Ebenen eine permanente Hierarchie, in der die unterste lokale Gemeinschaft nun nicht mehr einen autonomen Status, sondern den einer politischen Unterabteilung hat, und mit der auch eine territoriale Integration bis hinaus an die Peripherie erreicht wird.72
Vgl. Sahlins 1968, 24, 26.
Thus the chiefdom ist united where the segmentary tribe is divided, and culturally integrated at higher levels, where the segmentary tribe is poorly defined.73
Sahlins 1968, 27.
Ausserdem wird nun aber die Hierarchie noch verfeinert, indem jetzt auch die Einheiten auf der gleichen Ebene sich in eine Rangfolge einordnen und damit über unterschiedliche Grade von Autorität verfügen. Wie aber schon gesagt, heisst dies nicht, dass damit bereits eine Klassengesellschaft vorliegt. Entsprechend entstehen nach Sahlins damit nicht Interessenskonflikte, sondern eher eine Art System von abgestuften Interessen:
It is a structure of degrees of interest rather than conflicts of interest: of graded familial priorities in the control of wealth and force, in claims to others' services, in access to divine power, and in material styles of life - such that, if all the people are kinsmen and members of society, still some are more members than others.74
Sahlins 1968, 24.
Der Rang einer Verwandtschaftseinheit und der zugehörigen Häuptlingsposition ergibt sich aus der Qualität der Abstammung. Die daraus ableitbaren Statuspositionen können in sehr subtiler Weise unterschiedlich sein, womit eine klare Grenze zwischen Adel einerseits und gemeinem Volk andererseits nicht möglich ist.75
Nach Sahlins 1968, 24, vgl. auch Fried 1967, 116. Zur Komplexitätzssteigerung der Verwandtschaftssysteme siehe auch Klaus Eder 1980, 57 ff.
Betrachten wir das Rangprinzip am Beispiel eines bestimmten Typs von Häuptlingstum, dem sog. "konischen Clan", der aus Polynesien, aber auch aus Zentralasien und Teilen Afrikas bekannt ist und vermutlich auch im Laufe der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft eine Rolle gespielt hat, etwa bei den Kelten und den biblischen Israeliten. Der konische Clan ist ein erweitertes, auf patrilinearer Ideologie beruhendes Abstammungssystem mit einer Rangfolge von Segmenten, die sich aus Unterschieden ihrer zugehörigen Stammväter in der Distanz zu einem Vorfahr ableitet: Der erstgeborene Sohn eines erstgeborenen Sohnes hat den höchsten Rang - er wird auch den Autoritätsposten seines Vaters erben -, der letztgeborene Sohn eines letztgeborenen Sohnes den tiefsten.76
Über die Stellung der Frauen wird, jedenfalls bei Sahlins, nichts gesagt. Es ist anzunehmen, dass diese in unverheiratetem Zustand "Anhängsel" ihrer Väter, im verheirateten Zustand "Anhängsel" ihrer Ehemänner sind.
Nach diesem Prinzip entsteht auch ein hierarchisches System von Häuptlingen. Ein idealisiertes Beispiel ist in Abb.4 dargestellt. Hier zerfällt ein Patriclan, der auf einen Urahn zurückgeht, in zwei intermediäre Patrilinien I und II, deren Ahnen der ältere bzw. der jüngere Sohn dieses Urahn sind. Dabei ist Linie I, dem Primogenitur-Prinzip folgend, höherrangig. Deren Söhne wiederum - es wird der Einfachheit angenommen, dass beide wiederum zwei Söhne haben - bilden die Stammväter von von vier lokalen Verwandtschaftsgruppen, d.h. I teilt sich in A und B, II in C und D. Dabei ist regelgemäss wiederum A gegenüber B, und C gegenüber D privilegiert. Die Konsequenz bezüglich des Status der gegenwärtigen Häuptlinge dieser lokalen Gruppen ist die: a ist nicht nur Häuptling der lokalen Patriline A, sondern auch Oberhaupt der intermediären Patrilinie I und darüber hinaus des gesamten Patriclans. c ist nicht nur Häuptling der lokalen Patrilinie C, sondern auch Oberhaupt der intermediären Patrilinie II. b und d dagegen nehmen lediglich Häuptlingsfunktionen bezüglich der lokalen Patrilinien B bzw. D wahr.77
Vgl. Sahlins 1968, 24-25.
Abbildung 4: Schematisches Modell eines Häuptlingstums, das sich aus konischen Clanlinien aufbaut (aus Sahlins 1968, 25)
Abbildung 4: Schematisches Modell eines Häuptlingstums, das sich aus konischen Clanlinien aufbaut (aus Sahlins 1968, 25)78
Eine entsprechende Figur findet sich auch in Eder 1980, 59.
Hier ist es offensichtlich, dass das Verwandtschaftssystem nun zu einem Gebilde mit einem ausgesprochen politischen Charakter wird; die ganze Gesellschaft ist vom lokalen Gemeinschaftsniveau an aufwärts politisch durchorganisiert. Damit sind auch die Anfänge einer politischen Ökonomie verbunden. Der Hauptteil der geleisteten Arbeit bezieht sich zwar noch stets auf Aktivitäten in den Familien und Dörfern, aber daneben können Leute für spezielle Arbeiten wie für den Bau eines Bewässerungssystems, eines Tempels usw. aufgeboten werden. Auch wird ein primitives Abgabensystem eingerichtet, in dessen Rahmen Güter für den Unterhalt der Häuptlinge und weiterer Leute abgeliefert werden müssen, die administrative und zeremonielle Ämter bekleiden und selbst nicht mehr in der landwirtschaftlichen Produktion tätig sind, also sich nicht selbstversorgen können. Mit diesem Bedarf an Mehrproduktion ("surplus") wird die lokale Produktion nicht nur angezapft, sondern u.U. auch angekurbelt.79
Siehe Sahlins 1968, 25-26.
Eine übersteigerte Version dieser Art von politischer Ökonomie finden wir bei der in 3.4 beschriebenen hawaiianischen Gesellschaft der voreuropäischen Zeit, die nun aber auch bereits den Charakter einer im Sinne von Fried stratifizierten Gesellschaft hat.
Das Wettbewerbsprinzip, das damit verbunden ist, scheint auch Anlass für mehr oder weniger ständige Kriegsführung zu sein. Da kriegerische Aktivitäten, wenn auch in sporadischerer Häufigkeit, schon, wie wir gesehen haben, ein Element der tribalen Gesellschaften ist, stellt sich die Frage, inwieweit diese eine allenfalls geradezu konstitutive Rolle für den zu staatlichen Gesellschaften führenden Transformationsprozess spielen. Service z.B. vertritt die Auffassung, dass alle "Aussenpolitik" schon von Stämmen für gewöhnlich einen militärischen Charakter habe. Fried wendet sich gegen eine derartige Vorstellung und meint, kriegerische Handlungen kämen zwar regelmässig vor, aber viel bedeutender seien Feste und nennt als Beispiel die berühmte Einrichtung des "Potlatsch" bei den Nordwestküsten-Indianern , bei dem lokale Häuptlinge in zeremonieller Weise für die Umverteilung von Gütern besorgt sind.80
Siehe Fried 1967, 178-180.
Die Stellung der Häuptlinge ist übrigens nicht mehr zu vergleichen mit der Existenz der "kleinen Häuptlinge" bei den segmentären Gesellschaften - und sowieso nicht mit der der "grossen Männer". Es handelt sich um permanente, erbliche Positionen, die bestimmte Privilegien, aber auch bestimmte Pflichten beinhalten. Häuptlinge verfügen über Befehlsgewalt, und Befehlsketten können sich entsprechend über die verschiedenen Ebenen des hierarchischen Systems erstrecken.81
Nach Sahlins 1968, 26.
Eine interessante offene Frage bezieht sich auf das Verhältnis der Geschlechter und deren Bedeutung für die Verwandtschaftssysteme. Bei der Besprechung der Stammesgesellschaften in 2.3 haben wir erwähnt, dass sowohl Matri- wie auch Patrilinearität (neben Bilateralität) vorkommen. Für die Häuptlingstümer wird wohl i.a. eine patrilineare Organisation angenommen - die Häuptlinge sind auch normalerweise männlichen Geschlechts. Allerdings gibt es Gegenbeispiele wie die in 3.3 beschriebenen Irokesen, bei denen eine matrilineare Organisation vorherrscht und es teilweise auch Hauptfrauen gibt. Was ist die evolutionäre Stellung und Bedeutung dieser verschiedenen Organisationsprinzipien? Eder operiert mit einem historisch-genetischen Schema von Gesellschaftsformen, bei dem auf jeder Stufe der Entwicklung verschiedene Ausprägungen möglich sind, wobei sich aber nur eine davon evolutionär behaupten kann, während die anderen zu evolutionären Sackgassen werden. Sein Schema beginnt so wie in Abb.5 gezeigt: Die ursprüngliche Gesellschaftsform familialer Systeme wird abgelöst durch eine matrilineare und eine patrilineare Version von Verwandtschaftssystemen. Die weitere Entwicklung nimmt aber dann nur die letzteren als Ausgangspunkt, während die ersteren evolutionär gesehen versanden. Warum ist das so? Eder gibt dazu keine Erklärung.82
Siehe Eder 1980, 13-15.
Irene Schumacher aber meint:
Der Irokesenbund ist ein Beweis, dass matrilinear dominierte Gesellschaften durchaus fähig sind, komplexe politische Gebilde zu entwickeln und infolgedessen Matrilinearität einer Staatenbildung nicht im Wege steht.83
Irene Schumacher 1997, 106.
Abbildung 5: Teil des evolutionären Schemas von Eder mit der Verzweigung zu einer patrilinearen Erfolgslinie rechts und einer matrilinearen Sackgasse links (nach Eder 1980, 14).
Abbildung 5: Teil des evolutionären Schemas von Eder mit der Verzweigung zu einer patrilinearen Erfolgslinie rechts und einer matrilinearen Sackgasse links (nach Eder 1980, 14).
2.5 Ausblick auf politische Aspekte von stratifizierten und staatlichen Gesellschaften
3. Fallbeispiele für die Entwicklungsstufen
3.1 Die !Kung San als Beispiel für archaische lokale Gruppen
3.2 Die Tsembaga als Beispiel für eine Stammesgesellschaft
3.3 Die Irokesen als Beispiel für ein matrizentrisches Häuptlingstum
3.4 Die Hawaiianer als Beispiel einer stratifizierten Gesellschaft
4. Hypothesen zur Entstehung politischer Gesellschaften
4.1 Endogene Hypothesen
4.1.1 Die Überschuss-Hypothese von Gordon V. Childe
4.1.2 Die Redistributions-Hypothese von Elman R. Service
4.1.3 Die hydraulische Hypothese von Karl A. Wittfogel
4.1.4 Die Privateigentums-Hypothese von Friedrich Engels
4.2 Exogene Hypothesen
4.2.1 Die Begrenzungs-Hypothese von Robert L. Carneiro
4.2.2 Die Eroberungs-Hypothese von Herbert Spencer, Friedrich Ratzel u.a.
4.2.3 Die Notzeiten-Hypothese von Max Weber
5. Freiheit und Liberalismus
5.1 Freiheit als Willkür versus Freiheit in Verantwortung
5.2 Negative versus positive Freiheit
5.3 Die "Tragödie des Liberalismus"
6. Demokratie und Ökologie
6.1 Staatsversagen
6.2 Politischer Kommunitarismus
6.3 Ökologischer Kommunitarismus
6.3.1 Spirituelle Entwicklung der Individuen
6.3.2 Politische Dezentralisierung und Selbstbestimmung
6.3.3 Bioregionale Organisation
7. Zur ökologischen Gesellschaftsutopie
7.1 Allgemeines
7.2 "bolo'bolo": Ein konkreter Entwurf
Zitierte Literatur