Die Gesellschaft der BewohnerInnen der Trobriand-Inseln in Melanesien wurde vom ursprünglich aus Polen stammenden englischen Ethnologen Bronislaw Malinowski (1884-1942) in den 20er Jahren studiert.19 Sie stellt eine widersprüchliche Mischung von älteren matrizentrischen und neueren patriarchalen Prinzipien dar. Die Trobriander hatten damals noch eine matrilineare Organisation, in der sich Abstammung, Verwandtschaft und soziale Beziehungen nach den Müttern ausrichteten. Frauen hatten wesentlichen Anteil am Gemeinschaftsleben und es kam ihnen bei vielen Tätigkeiten eine führende Rolle zu. Vor allem prägten sie die Kultur der menschlichen, vor allem auch der erotischen Beziehungen. Dabei war der männliche Zeugungsakt unbekannt und entsprechend wurde ein Kind als nur mit der Mutter verwandt angesehen. Auch existierte noch der alte Wiedergeburtsglauben, wie wir ihn in 4.4 skizziert haben. Ebenso gab es die Einrichtung der sozialen Vaterschaft, bei der ein mütterlicher Bruder eine erzieherische Mitverwantwortung für seine Nichten und Neffen übernahm. Gleichzeitig versorgte dieser seine Schwester mit Nahrungsmitteln. Alle Würden, auch die Häuptlingswürde, wurden über die weibliche Linie vererbt, wobei der Häuptling aber die Sippe nach aussen vertrat. Wie angedeutet, trug aber die Gesellschaft daneben in gewissen Belangen auch schon patriarchale Züge. So gab es z.B. eine patrilokale, monogame Eheregel. Entsprechend lebten die Frauen mit ihren Kindern nicht mehr in ihren Geburtshäusern, sondern im Haus des Mannes, das auch ihm gehörte. Dieser verfügte aber über keine Autorität inbezug auf die Kinder, diese Aufgabe kam ja eben dem Mutterbruder zu.
Abbildung 19: Der Übergang von der matrizentrischen zu patriarchalen Sozialorganisation bei den Trobriand-Insulanern nach der Neuinterpretation der Forschungsbefunde von Malinowski durch Reich. Oben: Gegenüberstellung der “gesetzlichen” Heirat von Häuptlingssohn und Häuptlingsnichte (Verbindung I) mit der “ungesetzlichen” Heirat von Häuptlingstochter und Häuptlingsneffen (Verbindung II). Unten: Ausbildung des für den Häuptling vorteilhaften Güterflusses im Falle der “gesetzlichen” Heirat. Für Details siehe Text (nach Reich 1972, 62, aus Göttner-Abendroth 1988, 72)
Wilhelm Reich unterzog später Malinowskis Forschungsbefunde einer neuen, schärferen Analyse und konnte dabei den Mechanismus des Umschwungs besser herausarbeiten und zeigen, wie der Häuptling es verstand, in raffinierter Weise die Traditionen des Gütertauschs, der Heiratsregeln und der Eheform für seinen wirtschaftlichen Vorteil und damit auch zur Sicherung seiner Herrschaft zu nutzen.20 Wie dies vor sich ging, zeigt Abb.19. Der Häuptling hat eine ausgezeichnete Position, indem er als einziger Mann mit mehreren Frauen verheiratet ist, da jeder Clan ihm eine Frau geben muss. Nach alter matrizentrischer Sitte müssen aber die Brüder dieser Frauen sie mit Gütern (haltbare Knollengewächse u.a.) versorgen, was aber nun dem Mann dieser Frauen, also dem Häuptling zugute kommt, der damit Vorräte akkumulieren kann. Zwar ist er auch verpflichtet, einen Teil seines Reichtums bei Festen wieder zu verteilen bzw. zur Versorgung der Teilnehmer von Handelsexpeditionen zu verwenden, aber es bleibt einiges übrig, das er - jetzt wieder nach alter Sitte - selbst zur Versorgung seiner Schwester brauchen muss, wobei letztlich wieder deren Gatte davon profitiert. Nun kommt der Trick: Es gibt eine vorgeschriebene, “gesetzliche” Heirat, den Häuptlingssohn und seine Nichte, die Tochter der Häuptlingsschwester, betreffend (siehe Verbindung I oben in Abb.19). Eine Heirat zwischen der Häuptlingstochter und ihrem Neffen, dem Sohn der Häuptlingsschwester, ist dagegen “ungesetzlich” (Verbindung II oben in Abb.19). Dies hat den Effekt, dass der Häuptling schlussendlich die Güter, die er an seine Schwester bzw. deren Gatten geben musste, wieder zurückerhält, denn solange die Ehe zwischen seinem Sohn und der Nichte besteht, müssen sowohl sein Schwager wie auch sein Neffe ein Heiratstribut an seinen Sohn liefern. Dieser aber muss den Haushalt seiner Mutter unterstützen, an dem aber ja auch der Vater Anteil hat. Würde dagegen die Häuptlingstochter den Häuptlingsneffen heiraten, gingen die Zuwendungen, die der Häuptling zu seinen Lebzeiten an seinen Sohn tätigt, verloren, denn dieser müsste ja seine Schwester unterstützen, was ihrem Gatten, dem Neffen zugute käme, der seinerseits wiederum seine Schwester, die Nichte, versorgen müsste, und wenn diese mit einem fremden Mann verheiratet wäre, verschwänden letztlich die Güter zu einer fremden Familie. Die Konsequenz des Ganzen ist, das der Häuptlingssohn gegenüber dem noch matrilinear-rechtlichen Erben der Häuptlingswürde, dem Schwesternsohn, massiv bevorteilt ist. Wie Reich meint, braucht es jetzt nur noch einen Schritt, um das Erbrecht endgültig von der mütterlichen auf die väterliche Linie zu übertragen.