Schon im 19. Jahrhundert gab es Forscher, die die (frühere) Existenz von matrizentrischen Gesellschaften postulierten. Zu ihnen gehörten der Basler Rechts- und Kulturhistoriker Johann Jakob Bachofen (1815-1887) und der amerikanische Rechtswissenschafter Lewis Henry Morgan (1818-1881). Bachofen war aufgrund der Berichte antiker Schriftsteller und den Inhalten von Mythen, denen er durchaus einen Realitätsgehalt zurschrieb, zum Schluss gekommen, dass bei vor-indoeuropäischen Völkern vom östlichen Mittelmeergebiet (inkl. Griechenland) bis nach Indien mutterrechtliche Verhältnisse geherrscht haben mussten. Morgan kam mit der Irokesen-Gesellschaft in Berührung, begann sich für ihre traditionelle matrilineare Organisation zu interessieren und zeichnete deren Eigenheiten auf, bevor sie der Modernisierung zum Opfer fielen. Das traurige Schicksal der Indianer berührte ihn auch so weit, dass er ihnen als Anwalt bei Konflikten um Landrechte zur Seite stand.58 Bachofen handelte sich damals mit seinen Vorstellungen den Spott der wissenschaftlichen Gemeinde ein; es schien ihr schlechthin undenkbar, es könnte einmal Gesellschaften gegeben haben, in denen die Frauen den Männern überlegen oder auch nur gleichgestellt gewesen wären. Dabei ging es ihm lediglich darum zu zeigen, dass mutterechtlich organisierte Gesellschaften eine Stufe in der sozialen Evolution zur höherentwickelten patriarchalen Gesellschaft gewesen war. In diesem Sinne war er ein Evolutionist, ähnlich wie auch Morgan, für den ebenfalls die matrizentrische Organisationsform bloss ein Schritt in Richtung der späteren wirklichen Zivilisation darstellte. Diese Auffassung hat Göttner-Abendroth auf ihre unnachahmliche Weise so kommentiert:
So hält sich die Meinung, dass Matriarchate dumpf in sich kreisende, bewegungslos auf der Scholle hockende Müttervereine gewesen seien, die ihrer Erlösung durch Geisteshelle und Individuationsprinzip des Patriarchats dringend bedurften.59
Im Gegensatz zu den archaischen Gesellschaften, deren Subsistenz auf Wildbeutertum beruht, leben matrizentrische Gesellschaften normalerweise vom Ackerbau, dessen Form vom einfachen Gartenbau bis zu komplexen Bewässerungssystemen reichen kann. Für die abendländische Geschichte ist heute eine ausgedehnte matrizentrische Periode im Neolithikum bis zur Bronzezeit mindestens im Bereich des Balkans und Vorderasiens vor allem dank den minutiösen Forschungen der Archäologin Marija Gimbutas überzeugend nachgewiesen. Es gibt auch schon eine ansehnliche Menge von Literatur, die diese Epoche und auch ihre Ablösung durch patriarchale Gesellschaftsordnungen beschreibt und die Bedeutung matrizentrischer Prinzipien für unsere heutige Situation bespricht. Dazu gehören z.B. die Arbeiten von Marilyn French, Riane Eisler und Carola Meier-Seethaler.60 Unklar ist, wie weit dieser Gesellschaftstyp in die Vergangenheit zurückreicht. Göttner-Abendroth redet von frühesten Anfängen in der mittleren Steinzeit. Insbesondere betrachtet sie Südchina als ein Gebiet, in dem die erste Kultivierung von Pflanzen schon vor 60 000 Jahren begann.61 Für den Bereich Europas wird üblicherweise ein Beginn des Ackerbaus nicht vor 10 000 v.u.Z. angenommen. Es ist aber auffallend, dass, wie die Urgeschichtlerin Marie E.P. König zeigt, unter den archäologischen Funden bis mindestens 30 000 Jahre zurück weibliche Figurinen vorherrschen.62 Wesentlich aber für das Verständnis matrizentrischer Gesellschaften ist, dass die neuere Forschung sich intensiv mit bis heute lebenden Gesellschaften dieses Typs oder aber mit Gesellschaften, in denen noch Reste matrizentrischer Sozialordnungen vorhanden sind, befasst hat.
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Göttner-Abendroth 1988, 38. Zur ausführlichen Kritik der Vorstellungen von Bachofen und Morgan siehe Göttner-Abendroth 1988, 33 ff. bzw. 40 ff.