4.2 ... oder egalitäre Gemeinschaften?
Die in der gerade besprochenen Hordentheorie enthaltene These von der ursprünglichen Dominanz der Männer passt sehr gut zu der heute im allgemeinen von der Soziobiologie vertretenen Auffassung, wonach das Wildbeuterleben 99% der gesamten Geschichte der Menschheit ausmachte und während dieser langen Zeit unser noch heute gültiges genetisches Programm beeinflusste. Und da diese Zeit eine harte und auseinandersetzungsreiche war, sind die grössere Aggressivität der Männer, die Zweitrangigkeit der Frauen, die Kleinfamilie und der Krieg gewissermassen zu menschlichen Konstanten geworden. Der Zürcher Ethnologe Jürg Helbling weist darauf hin, dass es sich dabei um Projektionen von Ist-Zuständen der Gegenwart auf die Vergangenheit handelt und dass sich mit der Behauptung, es handle sich um Universalien, bequem heutige Zustände als natürlich entschuldigen lassen. Umgekehrt gibt es ein gegnerisches Lager, das ein Kontrastbild der archaischen Gesellschaft als einer “harmonischen Urgemeinschaft” mit egalitären Geschlechterbeziehungen und der Absenz von Herrschaft und Ausbeutung, auch der Natur gegenüber, entwirft.22
Mit der ersten Auffassung werden also sich durch die Menschheitsgeschichte hindurchziehende Missstände einerseits sanktioniert und andererseits in fatalistischer Manier als unausweichlich angesehen. Die zweite Vorstellung hingegen hat einen eher utopischen Charakter. Helbling vermutet, dass es sich um zwei entegegengesetzte Extreme handelt, die beide der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Er möchte deshalb mit einer neuen Sichtung des akkumulierten Wissens über die Wildbeutergesellschaften herausfinden, was es mit diesen Gesellschaften wirklich auf sich hat. Um es hier schon vorweg zu nehmen: Er kommt zum Schluss, dass sicher die These von der Vorherrschaft der Männer grundsätzlich falsch ist, und dass die sozialen Verhältnisse doch vom oben utopisch genannten Szenario gar nicht so weit entfernt sind.
Inzwischen hat sich in ethnologischen Kreisen allmählich ein Konsens herausgebildet, dass archaische Gesellschaften sich nicht aus patrilokalen/patrilinearen Horden aufbauen, sondern aus verwandtschaftlich heterogenen Gruppen (“composite bands”) mit bilateral und affinal verknüpften Personen. Der Wandel in der Sichtweise ist zweifellos durch vergleichend-statistische Betrachtungen unterstützt worden, die auf der Basis des “World Ethnographic Sample” bzw. des “Ethnographic Atlas” von George Peter Murdock durchgeführt worden sind.23 So fand David F. Aberle unter 101 Wildbeutergesellschaften 19% mit patrilinearer, 13% mit matrilinearer, 61% mit bilateraler und 7% mit bilinearer Deszendenzregel,24 Carol R. Ember unter 179 solchen Gesellschaften 51% mit patrilokaler, 18% mit matrilokaler und 20% mit bilokaler Residenzregel.25 Diese Resultate zeigen, dass Patrilokalität und Patrilinearität nicht zusammenfallen und stützen somit die alte Hordentheorie nicht. Allerdings sind diese statistischen Zusammenstellungen selbst auch immer noch fragwürdig, denn, wie Helbling erläutert, haben die zugrundeliegenden Daten ihre Tücken: Sie stammen z.T. aus unzuverlässigen Quellen und viele Gesellschaften sind falsch codiert. Ausserdem sind sie auch nicht repräsentativ, denn 80% der Einträge im Atlas beziehen sich auf nordamerikanische Wildbeutergesellschaften. Schliesslich ist nie klar, ob sich “Verwandtschaft” auf ein kulturelles Klassifikationssystem oder auf die tatsächliche Organisation sozialer Gruppen bezieht, und es wird auch nicht zwischen normativen Residenzregeln und tatsächlichem Residenzverhalten unterschieden. Der letztere Punkt ist besonders wichtig, weil die beiden erfahrungsgemäss nicht miteinander übereinstimmen. Hier kann nur eine neuerliche Überprüfung von empirisch zuverlässigem Material weiterhelfen.26
Helbling bietet eine derartige Überprüfung an. Sein Ausgangspunkt ist die Theorie der Wildbeutergesellschaft des franzöischen Anthropologen Claude Meillassoux.27 Ihr zufolge sind deren lokale Einheiten verwandtschaftlich heterogen zusammengesetzt, egalitär hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und den Generationen und in dieser ihrer Struktur von ökologischen Faktoren (Verfügbarkeit von Nahrungsmittel-Ressourcen) determiniert.28 Die empirische Basis von Meillassoux ist aber minimal; sie beschränkt sich auf die BaMbuti, die Kongo-Pygmäen, wie sie von Colin M. Turnbull beschrieben worden sind.29 Helbling übernimmt die genannten Punkte als Thesen und schaut, ob sie auch auf die Gesellschaften wie etwa die Semang, die San, die nördlichen Algonkin und Athabasken, die Schoschonen und die Eskimo zutreffen, Beispiele anhand derer die Hordentheoretiker üblicherweise ihre Position entwickelt haben.30 Helbling findet bezüglich der verwandtschaftlichen Situation, dass in allen Fällen die lokalen Gruppen, die 15 bis 50, im Durchschnitt 25 Personen umfassen, heterogen, d.h. bilateral und affinal zusammengesetzt sind. Sie zeigen auch kein territoriales Verhalten im engeren Sinne, wie von den Hordentheoretikern behauptet, d.h. sie haben kein territoriales Eigentum, das sie gegenüber Nachbarn verteidigen. Erst der übergeordnete Stamm als kulturell-religiös-sprachliche Einheit mit 200 bis 800, im Durchschnitt 500 Mitgliedern wird als Kollektiveigentümer eines bestimmten Gebietes angesehen und stellt auch eine endogame Einheit (“effective breeding population”) dar.31 Als plausible Gründe für die “composite band”-Struktur und die fehlende Territorialität nennt Hebling die folgenden:32
·
Beim strikten Befolgen einer unilokalen Residenzregel könnten sich grössere Schwankungen in der Gruppengrösse ergeben. Um dies zu vermeiden, wechseln Frauen und Männer bei Bedarf die Gruppe;
·
flexible Gruppenzusammensetzungen und überlappende Gruppengebiete erlauben eine an ökologisch wechselnde Bedingungen angepasste rationelle Ressourcennutzung;
·
der Gruppenwechsel ist ein bewährtes Mittel zur Lösung von Konflikten, die um die Verteilung von Nahrungsmittel oder wegen Ehestreitigkeiten entstehen können. Dazu Turnbull: “The fission and fusion of individuals and groups does not follow lines of kinship ... it follows lines of dissent rather than those of descent.”33
Auch die mit der “man-the-hunter” bzw. Hordentheorie verbundene Vorstellung eines gesellschaftlichen Vorrangs der Männer hat allmählich der Auffassung Platz gemacht, dass die Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern einen durchaus egalitären Charakter haben. Von dem bei männlichen Autoren so beliebten Modell des von bestandenen Männern organisierten Frauentausches zwischen den Gruppen kann keine Rede sein; was es dagegen gibt, ist eine freiwillige Zirkulation von erwachsenen Frauen und Männern.34 Es gäbe auch keine plausiblen Gründe für eine Machtasymmetrie zwischen Geschlechtern. Die Jagd der Männer ist gar nicht so wichtig für den Lebensunterhalt wie früher behauptet, auch können sie üblicherweise nicht frei über ihre Jagdbeute verfügen. Die Frauen hingegen liefern den grösseren Anteil am Gesamtprodukt und können diesen auch kontrollieren, womit ihnen durchaus Pressionsmöglichkeiten offenstehen. Hinsichtlich des Generationenverhältnisses wäre zu bedenken, dass es keine erbliche Weitergabe von Gütern oder Ämtern gibt. Im Verein mit der notwendigen Mobilität der Individuen besteht kein Anlass oder auch keine Möglichkeit, die Kinder in besonderer Weise zu kontrollieren.35
So weit wäre also die Theorie von Meillassoux verifiziert. Helbling aber findet, die alte Hordentheorie könne erst dann als endgültig widerlegt angesehen werden, wenn sich die gleichen Verhältnisse auch bei den australischen Aborigines, die dieser Theorie jeweils als Paradebeispiel dienten, finden liessen. Das Resultat: Auch hier sind die lokalen Gruppen nicht patrilokal zusammengesetzt, und das ist nicht etwa nur eine kurzfristige Ausnahme. Zwar existieren Patriclans als verwandtschaftliche Gruppierungen, die durch eine patrilokale Residenz- und eine patrilineare Deszendenzregel zustandekommen, aber sie sind nicht deckungsgleich mit den lokalen Gruppen. Ihre Aufgabe ist religiöser Art: sie sind innerhalb eines bestimmten Gebietes für die die rituelle Betreuung der von Traumzeitwesen hinterlassenen totemistischen Orte verantwortlich. Mit der “ ‘Traumzeit’ ist ... die Schöpfungszeit gemeint, in der die Traumzeitwesen die Dingen schufen und die Gesetze festlegten, nach denen sie funktionieren.”36 Mit Blick auf die Hordentheorie, die die Existenz von Krieg als eine Ursache für Patrilokalität und Territorialität postulierte, meint Helbling, es sei eher umgekehrt, die letzteren wären Voraussetzungen dafür, dass Krieg überhaupt entstehen könne. Entsprechend selten ist sein Vorkommen denn auch in archaischen Gesellschaften.37
Es bleibt noch die Frage des Geschlechterverhältnisses. Die Hordentheoretiker hatten hier eine Asymmetrie vor allem auch aus religiös-ideologischen Gründen behauptet, denn nach ihrer Vorstellung gründet das rituelle Leben auf geheimem Wissen, das ausschliesslich den Männern vorbehalten ist. Nach Helbling nehmen aber auch Frauen an den Männerriten teil und sie haben auch Kenntnis vom geheimen Wissen, sofern sie sich dafür überhaupt interessieren. Darüber hinaus haben sie ihre eigenen Zeremonien, die sich ebenso wie die der Männer auf die Gesellschaft als Ganze beziehen.38 Und was schliesslich noch die Heiratssitten betrifft: Es gibt keinen institutionalisierten Frauentausch, weder Männer noch Frauen können in Heiratsfragen für sich eine dominante Stellung reklamieren.39
Anmerkungen
22
Vgl. Jürg Helbling 1987, 13-14.
23
George Peter Murdock 1957 bzw. 1967. Der Ethnographic Atlas umfasst für gegen 1300 Gesellschaften (ursprünglich um die 600) Merkmals-Datensätze in Tabellenform, die interkulturelle Vergleiche ermöglichen. Beim “World Ethnographic Sample” handelt es sich offenbar um eine Vorläufer-Publikation des Atlas. Siehe dazu Marvin Harris 1968, 614 f. und Thomas Schweizer 1992, 433 f.
24
David F. Aberle 1961, zitiert in E. Adamson Hoebel 1966, 378.
25
Carol R. Ember 1978, zitiert in Helbling 1987, 81.
26
Vgl. Helbling 1987, 19 und 81.
27
Claude Meillassoux 1977.
28
Siehe Helbling 1987, 14-15.
29
Colin M. Turnbull 1962.
30
So z.B. Service 1971, 48-54, 72-96, zur Überprüfung siehe Helbling 1987, 78-80.
31
Vgl. Helbling 1987, 73, 80
32
Vgl. Helbling 1987, 93-96.
33
Turnbull 1968, 137, zitiert in Helbling 1987, 96.
34
Siehe Helbling 1987, 109, 111.
35
Vgl. Helbling 1987, 126-130.
37
Siehe Helbling 1987, 82-93.
38
Nach Helbling 1987, 147-148.
39
Vgl. Helbling 1987, 166.