Wird das zweite Merkmal als strikte zu befolgende Regel gesehen, ist eine solche Horde residenzmässig patrilokal und deszendenzmässig patrilinear. In neuerer Zeit (seit den 60er Jahren) ist diese Theorie kritisiert worden; es wurde Radcliffe-Brown insbesondere vorgeworfen, er hätte es versäumt, eine Unterscheidung zwischen idealen Vorstellungen und der empirisch fassbaren Wirklichkeit zu treffen. Tatsächlich hatte er sich auf die normativen Beschreibungen von schon nicht mehr traditionell lebenden Informanten abgestützt und selbst gar nie die wirkliche Zusammensetzung von lokalen Gruppen
analysiert.3Siehe Helbling 1987, 83-84.
Bis dahin aber war die Vorstellung von Radcliffe-Brown von vielen Autoren aufgegriffen und weiter vertreten worden, z.B. vom amerikanischen Anthropologen Elman R. Service. In seinem Buch “Primitive Social
Organization”4Elman R. Service 1971 (erstmals veröffentlicht 1962).
lieferte er eine genauere Beschreibung solcher Horden: Ihre Grösse schwankt zwischen 30 bis über 100 Mitglieder. Der sog. “dialektische Stamm”, d.h. die Sammlung von Horden, die die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Kultur haben, was ein Einheitsgefühl ermöglicht, umfasst um die 500 Leute. Nach unten gliedert sich eine Horde in Kernfamilien, die die kohäsivsten Einheiten der archaischen Gesellschaft darstellen. In einer solchen Familie herrscht geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Gatten zum Beschützer und Ernährer der ihm anvertrauten Frau und ihrer Nachkommen macht. Auf höherer Ebene gibt es keine Arbeitsteilung, womit eine Kernfamilie mehr oder weniger autark für ihren Unterhalt sorgen
kann.5Nach Service 1971, 57-58.
Service behauptet nicht, dass alle archaischen Horden, die in der Neuzeit noch beobachtet werden konnten, sich nach der patrilokalen Residenzregel richten, aber doch, dass dies ursprünglich allgemeine und heute die noch mindestens vorherrschende Organisationsform sei. Wie lässt sich diese Ausrichtung erklären? Service geht die Vorschläge, die in dieser Hinsicht gemacht worden sind, der Reihe nach
durch:6Vgl. Service 1971, 33-35.
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Patrilokalität ist ein natürliches Resultat der männlichen Dominanz. Service meint, es stimme, dass die Männer in vielerlei Hinsicht zur Dominanz neigten, aber dieses Faktum genüge nicht für eine Erklärung. Denn neben den patrilokalen Horden gebe es auch sog. “composite bands”, gemischte Gruppen, bei denen keine strikten Regeln hinsichtlich der Residenz nach der Heirat eingehalten würden. Zudem sei auch in matrilokalen Gesellschaften festgestellt worden, dass die Männer sozial und politisch dominant seien;
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Patrilokalität entsteht deshalb, weil die Männer als Jäger für die Gruppe ökonomisch wichtiger sind. Dies kann nur bedingt richtig sein, da umgekehrt Gesellschaften, deren Subsistenz vorherrschend von den Frauen abhängt, nicht automatisch matrilokal sind. Service meint, der ökonomische Gesichtspunkt bringe uns aber auf die richtige Spur, da er unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der geschlechtlichen Arbeitsteilung richten könne;
Zusammenfassend: Service sieht Patrilokalität als logische Folge des Umstandes, dass Männer in den archaischen Gesellschaften eben Jäger und Krieger sind. Sie ist nach ihm auf alle Fälle nicht ökologisch durch die Umwelt- oder die Nahrungssituation bedingt. Dies zeige sich darin, dass patrilokale Horden unter den verschiedensten Umweltverhältnissen
vorkämen.8Siehe Service 1971, 52 bzw. 54.
Die Heiratsregeln richten sich nach einem Exogamiegebot oder, umgekehrt, nach einem Endogamieverbot. Das ergibt sich aus dem Prinzip der Patrilokalität, solange alle Frauen bei der Heirat die Horde wechseln. Tatsächlich ist dies der Fall, aber warum? Schon im vorigen Jahrhundert vertrat der “Vater der Ethnologie”, Lewis H. Morgan, bei der Beschreibung der Irokesen-Gesellschaft die Ansicht, dies geschehe um die negativen Folgen von Inzest zu vermeiden:
As intermarriage in the gens was prohibited, it withdrew its members from the evils of consanguine marriages, and thus tended to increase the vigor of the stock.9Lewis H. Morgan 1978, 69 (erstmals 1877 publiziert).
Diese These hat später als sog. “Inzest-Tabu” längere Zeit eine Rolle gespielt. Nach Göttner-Abendroth ist diese Vorstellung unhaltbar, denn wenn Inzest biologisch schädliche Folgen haben sollte, wären diese nie unmittelbar zu beobachten. Zudem, so meint sie, hätten die menschlichen Urgesellschaften sich offenbar ohne Probleme über Jahrtausende in sich selbst fortgepflanzt. Im übrigen, so der englische Anthropologe Robin Fox, ist es sowieso falsch, Exogamiegebot und Inzestverbot als Kehrseiten voneinander zu sehen, denn das sind zwei verschiedene Dinge: “This is really only the difference between sex and marriage, and while every teenager knows these are different, many anthropologists get them
confused.”10Robin Fox 1973, 54.
Für die Exogamieregel, die uns hier interessiert, muss es also andere Gründe geben. Göttner-Abendroth hat eine einfache und naheliegende Erklärung: Eine Institutionalisierung von exogamen Heiratsregeln verhindert ein Auseinanderfallen einer Gesellschaft, wenn sie sich infolge Grössenwachstums in Sippen aufteilt, denn damit wird ein Beziehungsgeflecht geschaffen, das in Notsituationen zu gegenseitigen Hilfeleistungen
motiviert.11Göttner-Abendroth 1988, 43. Dabei haben die Sippenstrukturen, die ihr vorschweben, einen matrilinearen Charakter. Dazu mehr in Abschnitt 4.4.
Service glaubt, die Exogamieregel diene zunächst dazu, die Wahrscheinlichkeit von Eifersuchtskonflikten zwischen den Männern der Gruppe zu reduzieren, darüber hinaus aber, um Allianzen und Abhängigkeiten zwischen den Gruppen zu bilden, womit er in dieser Hinsicht mit der Argumentation von Göttner-Abendroth
übereinstimmt.12Siehe Service 1971, 30. Allerdings eben spricht Service von patrilokalen/patrilinearen Gruppen, Göttner-Abendroth von matrilokalen/matrialinearen.
Mit diesem letzteren Faktor setzt sich Service eingehender auseinander. Er geht von der Relevanz des Teilens als sozialem Faktor aus, was zunächst nach einer sinnvollen Anknüpfung an der in 3.1 diskutierten Bedeutung der Nahrungsteilung für die menschliche Enwicklung aussieht. Er meint: “Sharing creates dependencies and alliances, seizing food or mates by force or threat creates
enemies.”13Service 1971, 28.
Ihn interessieren aber nicht einfache, quasi instinktiv motivierte Akte des Teilens, sondern solche, die ein Konzept von Reziprozität beinhalten, also die Vorstellung einer Gegengabe zu einer anderen Zeit, die nach Service nur mit der Existenz symbolischer Kommunikationsformen bzw. einer Abstraktionsfähigkeit möglich erscheint. Service sieht darin den Beginn der eigentlichen menschlichen
Kultur.14Vgl. Service 1971, 28.
Das Teilen wird also zum Tausch, und Service ist der Ansicht, das weitaus wichtigste Tauschgeschäft zwischen Horden hätte Frauen betroffen:
It seems logical to assume that as a basis for later developments the most significant of the early rules of reciprocity was related to the acquiescence of two social groups in the reciprocal giving of females.15Service 1971, 29.
Für den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss hat die Exogamieregel nicht einen sozialen oder politischen Hintergrund, sondern sie ist ganz einfach ein wichtiger Spezialfall von allgemeinen Tauschmechanismen, die Ausdruck einer universellen mentalen Tiefenstruktur, gewissermassen einer angeborenen “Sprache” sind. Dabei geht es dann nicht nur, negativ interpretiert, um die Vermeidung von Endogamie, sondern positiv formuliert mit Hilfe von genau spezifizierten Heiratsgeboten um die Identifikation möglicher Heiratspartner. Dazu Lévi-Strauss: “... the function of a kinship system is to generate marriage possibilities or
impossibilities.”16Lévi-Strauss 1966.
Aber warum sind es denn die Männer, die Frauen tauschen und nicht umgekehrt? Das ist einfach so, wie Lévi-Strauss’ lapidarer Kommentar zeigt: “In human society it is the men who exchange the women, and not vice
versa.”17Lévi-Strauss 1967, 45.
Wie schon angedeutet, gibt Service zu, dass es neben dem patrilokalen, exogamen und patrilinearen Hordentyp noch eine davon abweichende Organisationform gibt, die weniger häufig vorkommt. Er meint die “composite bands“, die, da keine bestimmten Residenz- und auch keine bestimten Heiratsregeln (ausser dem üblichen Verbot, nahe Blutsverwandte zu ehelichen) befolgt werden, einen gewissermassen diffusen, gemischten Charakter haben: “It is, so to speak, more of an expedient agglomeration than a structured
society.”18Service 1971, 47.
Service beruft sich auf Julian Steward, der diese Form unter anderem für einige kanadische Indianerstämme beschrieben
hat.19Vgl. Julian Steward 1955, 145-148.
Er teilt aber nicht dessen Interpretation, die dahin geht, dass diese Art der Organisation ursprünglich und ökologisch durch eine Abhängigkeit von jahreszeitlich wandernden Wildherden erklärbar sei, sondern er glaubt, dass es sich dabei um eine aus einst patrilokaler/patrilinearer Organisation durch den Kontakt mit der westlichen Zivilisation entstandene degenerative Erscheinung
handle.20Siehe Service 1971, 97 f.
Klar ist für Service auf alle Fälle, dass es nirgends reine matrilokale Horden
gibt.21Nach Service 1971, 48.