nDie Sexualität, so meint Fisher, spielte im Prozess der Menschwerdung eine zentrale Rolle, und wer möchte abstreiten, dass sie dies auch für unser heutiges Leben noch tut? “We are a species devoted to sex. We talk about it, joke about it, read about it, dress for it, and perform it
regularly.”15Fischer 1983, 23.
Warum? Die Menschenfrau ist konstant sexuell ansprechbar, was für den ganzen Bereich der Säugetiere ein aussergewöhnliches Merkmal darstellt: Bei den meisten von ihnen gibt es eine saisonale Paarungszeit, in der die Weibchen brünstig sind, was sie durch eine Veränderung in ihrem Geruch oder Verhalten anzeigen. Hat ein Weibchen dann empfangen, hört die Brunst auf, und bis das Jungtier entwöhnt ist, wird es auch nicht wieder brünstig werden. Für die Männchen bedeutet dies, dass auch sie ausserhalb der weiblichen Brunstperiode keinen Sex haben können; sie müssen jeweils wieder bis zur nächsten Paarungssaison warten. Interessanterweise wird nun aber das Brunstphänomen bei unseren nächsten Verwandten, den Affen und Menschenaffen, zu einer monatlichen Angelegenheit. Enstprechend können sie sich nun auch monatlich paaren, aber die sexuellen Verhaltensmöglichkeiten sind immer noch eingeschränkt. Der Grund: Schimpansenfrauen z.B. haben zwar einen monatlichen Menstruationszyklus wie die Menschenfrauen, aber eben auch eine Brunstperiode, die auf etwa 10 Tage limitiert ist und mit der Ovulation zusammenfällt. Der empfängliche Zustand wird von ihnen durch eine Anschwellung und Rötung des Genitalbereichs angezeigt. Aber auch hier gilt: Sobald eine Frau schwanger ist, hört das Sexleben auf und setzt sich auch nach der Geburt nicht fort, sondern erst nachdem das Kind nach etwa 2 Jahren entwöhnt ist; bis dahin setzt auch der Zyklus nicht wieder ein. Im Gegensatz dazu gibt es nun bei der Menschenfrau keine offensichtliche Brunstperiode und damit ist nicht klar, wann sie empfängnisbereit ist. Ein Paar, das ein Kind will, muss sich daher regelmässig lieben. “It is almost as if nature had wished human beings to make love daily, for in fact, the human female is particularly designed to do
so.16Nach Fisher 1983, 31.
In ihrer Betrachtung der Entwicklung der Formen menschlichen Zusammenlebens sieht nun Fisher die Sexualität als Schlüsselelement in einem Netz von Einflussfaktoren, gewissermassen als Antwort auf Probleme, die sich im Prozess der Menschwerdung ergaben. Zu diesen Faktoren gehören die Nahrungsteilung, der aufrechte Gang und die verlängerte Kinderpflege. Zunächst können wir annehmen, dass die Vorfahren des Menschen ähnlich lebten wie die heutigen Schimpansen. Bei diesen herrscht, wie wir gesehen haben (vgl. 2.4), sexuelle Promiskuität, ein Phänomen, das uns in kleinerem oder grösserem Ausmass auch von allen anderen höheren Primaten mit Ausnahme des Gibbons bekannt ist. Damit nimmt Fisher an, dass dies auch für unsere frühen Vorfahren zutreffen müsste: “... there is every reason to think we were promiscuous in the dim days of our first beginnings. That we have not yet totally shed this habit is
obvious.”17Fisher 1983, 87.
Bedeutsam erscheint aber auch das in 3.1 erwähnte erste Auftreten von Formen der Nahrungsteilung bei den Schimpansen, denn dabei wurde beobachtet, dass bestimmte Frauen mehr Fleisch erhielten als andere, und zwar diejenigen, die gerade brünstig
waren.18Fisher verweist hier auf Geza Teleki 1973.
Die Fähigkeit, im richtigen Moment Sex anbieten zu können, meint Fisher, hätte in kargen Zeiten über Leben oder Tod der Frauen entscheiden
können.19Siehe Fisher 1983, 59-60.
Hier greift nun Fisher auf die in 3.1 für die Hominiden ebenfalls schon genannten Zusammenhänge zwischen Nahrungsteilung in einem Basislager, dem Transport der Nahrungsmittel dorthin und dem aufrechten Gang zurück. Insgesamt interpretiert sie das Merkmal des Bipedalismus als eine anatomische Anpassung an Verhaltensänderungen, die sich mit dem Übergang zum Savannenleben
aufdrängten.20Siehe Fisher 1983, 62.
Für die Frauen ergab sich daraus aber ein Problem: Während diese Anpassung in einer Verringerung des Durchmessers ihres Geburtskanals resultierte, nahm gleichzeitig, wie schon bekannt (vgl. 3.2 und 4.4. in “Menschwerdung), infolge Gehirnwachstums die Schädelgrösse der Föten zu. Dies hatte zur Folge, dass Kinder frühzeitig, in einem unreifen Stadium geboren wurden und so der intensiven Pflege bedurften. Damit aber war die Unabhängigkeit der Frauen eingeschränkt und sie waren fortan auf männliche Hilfe angewiesen:
Gone were the days when female protohominids could independently cope with their young. Now they would be forced to make a deal with males. With this bargain the sex contract would begin.21Fisher 1983, 83.
In dieser Situation konnte nun eine Verlängerung der sexuell aktiven Periode bei den Frauen nur zu ihrem Vorteil sein: Eine vermehrte männliche Zuwendung war ihnen sicher, und sie hatten Aussicht, einen grösseren Anteil zu erhalten, wenn Männer mit erbeutetem Fleisch heimkehrten. Umgekehrt konnten sie einen Teil der von ihnen gesammelten pflanzlichen Nahrung anbieten. Dieses Arrangement führte zu einer dauerhaften Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann und damit zu einer auch ökonomisch wirksamen Verbindung. Nicht nur verschwand im monatlichen Zyklus eine abgegrenzte Brunstperiode, sondern auch während Schwangerschaft und Stillperiode konnten Frauen nun sexuell aktiv sein. Darüber hinaus kam noch, unterstützt durch sekundäre Geschlechtsmerkmale, die aus anatomischen Veränderungen sich ergebende Möglichkeit dazu, den Geschlechtsakt selbst intensiver und intimer zu gestalten, nämlich von Angesicht zu
Angesicht.22Nach Fisher 1983, 94-95.
Alles in allem, so denkt Fisher, wurden so intensive persönliche Beziehungen allmählich zur Gewohnheit, zunächst vielleicht noch zwischen einer Frau und mehreren Männern oder umgekehrt, aber immer häufiger in der Form einer längerdauernden exklusiven Paarbindung. Diese gab dann auch zur Entwicklung von Verantwortungsbeziehungen zwischen den Partnern Anlass, speziell hinsichtlich der aus der Verbindung entspringenden
Kindern.23Vgl. Fisher 1983, 99.
Fazit:
What they [the protohominids] acquired in the struggle [for survival] was bonding, the father, the family, and the female sex athlete. The [social] consequences would be enormous.24Fisher 1983, 103.
Sollte nun durch diese Schilderung der Eindruck entstanden sein, die Männer seien das wichtige Geschlecht, dem sich die Frauen zwecks Überleben zur Verfügung halten müssen, legt Fisher Wert darauf, ein derartiges Bild zu korrigieren. Zwar haben männliche Autoren aufgrund des Studiums des sozialen Lebens der Tierprimaten patriarchal organisierte Horden als soziale Lebensform unserer Vorfahren postuliert. Es hat sich aber gezeigt, dass sie diese schlicht falsch interpretiert haben. Fishers sarkastischer Kommentar dazu:
It is axiomatic in the world of science that what you look for you find, and with time it became clear to many scholars that in all primate societies males dominated females - both sexually and socially.25Fisher 1983, 139.
Im Prinzip, so Fisher, müssen Dominanzverhältnisse und Verwandtschaftsrelationen auseinander gehalten werden. Eine unvoreingenommere Betrachtung der nicht-menschlichen Primaten z.B. macht deutlich, dass nicht die Väter am Anfang des Familienlebens stehen, sondern die Mütter, die mit ihren Nachkommen die einzig dauerhafte soziale Einheit bilden: “... it ... appears likely that the adult primate female is family leader and her relations with other females provide the matrix of primate social
life.”26Fisher 1983, 141.
Die Primatenmütter bestimmen auch, wer in der nächsten Generation jemand ist, denn vom Rang der Mutter leitet sich die soziale Stellung ihrer Kinder ab. Und was sexuelle Beziehungen anbelangt scheinen die Primatenfrauen durchaus wählerisch zu sein. “... female primates run not only their families but their love lives too - and they don’t always pick Mr. Number
One.”27Fisher 1983, 144. Erinnern wir uns als Beispiel an das in 2.4 erwähnte Consort-Arrangement von Schimpansenpaaren. Eine Frau hat hier die Möglichkeit, sich den Forderungen dominanter Männer zu entziehen und ihre Zeit mit einem Freund zu verbringen.
Ähnliche Verhältnisse dürfen für die frühen Hominiden vermutet werden. Die Männer hatten schätzungsweise ihre eigene Hierarchie, aber ihre Stellung in einer matrifokalen Gruppe dürfte von ihrer Popularität bei den Frauen abhängig gewesen sein. Schliesslich aber kam es wie beschrieben zur Bildung von Frau-Mann-Partnerschaften. Solange die Männer noch keine Vorstellung von Vaterschaft hatten, mögen sie dazu tendiert haben, ihre Partnerin nach einer Weile wieder zu verlassen, und die Kinder identifizierten ihre Abstammung immer noch einseitig mit ihrer Mutter. Aber mit der Etablierung von dauerhafteren Paarbindungen und der dazu gehörenden Kooperation war die Saat zur Entwicklung eines Verwandtschaftssystems
gelegt.28Vgl. Fisher 1984, 144 ff.
Was aber die weibliche Wahlfreiheit und Initiative bezüglich des Eingehens auf sexuelle Bindungen betrifft, ist anzunehmen, dass diese auch bei den frühen Menschen im Normalfall noch intakt waren. Nicht nur das, Fisher denkt, dass dies bis heute so geblieben ist. Sie stützt sich auf Studien, die bestätigen,
that although most peoples think men are supposed to take the initiative in sexual advances, in practice women around the world acitvely begin sexual liaisons. This ist still the case.29Fisher 1992, 32.
Frans de Waal nimmt in seinem Buch “Wilde Diplomaten” auf Fishers Sex-Vertrags-Hypothese Bezug. Die Tatsache, so meint er, dass Fisher die Fähigkeit zur vom Zyklus unabhängigen Paarung und die Vorliebe für frontale Kopulation für einzigartige Errungenschaften der Menschenfrauen halte, bedeute, dass sie von den Bonobos offenbar keine Kenntnis gehabt habe (vgl. 2.5). Gerade dieser Vergleich könnte im übrigen zeigen, dass die der Hypothese des Sex-Kontraktes zugrunde liegende Vorstellung eines Handels um Vorteile, Sex gegen Nahrung, zu eng gefasst sei. “Nicht jeder Sex, der bei den Bonobos zur Fütterungszeit stattfindet, kann ... der Hypothese vom Sexvertrag angerechnet werden. Er kommt in jedem Alter und in jeder Geschlechterkombination vor, ob das Futter geteilt wird oder
nicht.”30De Waal 1993, 212.
De Waal denkt, dass der Einsatz von Sex zur Verminderung des sozialgefährlichen Konkurrenzstrebens der wichtigere Aspekt
ist.31Siehe de Waal 1993, 212-214. In ihrem späteren Buch “The Anatomy of Love” geht dann übrigens Fisher auf die Bonobos ein (Fisher 1992, 128-131).
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob nicht die Bindungen zwischen hominiden und frühen menschlichen Individuen etwas mehr als nur sexuelle Aspekte umfasst haben. Hier ist ein Bericht des amerikanischen Anthropologen Alan Walker über 1,7 Mio. Jahre alte Knochenfunde in der Gegend des Turkana-Sees in Kenya
aufschlussreich.32Siehe Alan Walker und Pat Shipman 1996, 157 ff.
Sie stammten von einem weiblichen Homo erectus-Individuum, das als “1808” bekannt geworden ist. Das Ungewöhnliche an diesen Knochen war, dass sie pathologische Veränderungen zeigten, und es dauerte eine Weile, bis klar war, um was es sich dabei handelte: Um die Auswirkungen einer Vitamin A-Vergiftung. Eine solche kann durch den Konsum der Leber von Raubtieren entstehen, in der dieses Vitamin sich in besonders hohen Konzentrationen anreichert - Raubtiere befinden sich ja am Ende der Nahrungskette. Solche Vergiftungsfälle sind von Polarexpeditionen bekannt, auf denen die Nahrungsmittel ausgingen und die Teilnehmer begannen, ihre Schlittenhunde zu töten und zu essen. Die Vergiftung bewirkt eine Ablösung der Knochenhaut, besonders von den Gliedknochen, worunter sich dann wucherndes Knochengewebe bildet. Beim fraglichen Skelett war die Krankheit weit fortgeschritten; sie muss sehr schmerzhaft gewesen sein und die Frau immobilisiert haben. Aus dem Umfang der Wucherungen liess sich aber der Schluss ziehen, dass sie trotzdem über Wochen, wenn nicht Monate, überlebt hatte. Das konnte, so dachte Walker, nur eines bedeuten:
The implication stared me in the face: somone else took care of her. Alone, unable to move, delirious, in pain, 1808 wouldn’t have lasted two days in the African bush, much less the length of time her skeleton told us she had lived. Someone else brought her water and probably food ... And someone else protected her from hyenas, lions, and jackals on the prowl for a tasty morsel that could not run away. Someone else, I couldn’t help thinking, sat with her through the long, dark African nights for no good reason except human concern. ... Her bones are poignant testimony to the beginnings of sociality, of strong ties among individuals that came to exceed the bonding and friendship we see among baboons or chimps or other nonhuman primates.33Walker und Shipman1996, 165.