Hinsichtlich der sozialen Entwicklung der frühen Hominiden haben im Laufe der Zeit verschiedene Auffassungen miteinander abgewechselt, wobei bei den einen der Nahrungserwerb, bei den anderen die Nahrungsteilung im Vordergrund stand. Schon älteren Datums und vor allem bei männlichen Autoren lange Zeit beliebt war die Jagdhypothese. Diese besagt, dass für die Hominiden beim Übergang zum Savannenleben der Fleischkonsum immer wichtiger und damit die von Männern ausgeübte Jagd zu einem bestimmenden Faktor für die soziale Evolution wurde. Dabei dienten die Schimpansen als Modell: Männer kooperieren bei der Jagd auf andere Tiere, was eine Unterstützung für ihre gegenseitigen Koalitionsbeziehungen bedeutet. Allerdings wird nur gelegentlich gejagt und so beträgt auch erbeutetes Fleisch nur etwa 1% der
Schimpansendiät.2Vgl. Helen E. Fisher 1983, 61.
Trotzdem stellte man sich vor, die Jagd hätte für die Hominiden eine entscheidende Rolle gespielt und die dabei entstandenen Männerbündnisse seien zum Kern sich bildender sozialer Systeme geworden. Darüber hinaus aber wurde aus der Jagdhypothese das Bild eines “killer ape” entwickelt, das die blutige Menschheitsgeschichte gewissermassen auf natürliche Weise erklären soll. Führend in dieser Hinsicht war der südafrikanische Anthropologe Raymond Dart, der sich in den 50er Jahren auf die folgende Weise äusserte:
The blood-bespattered, slaughter-gutted archives of human history from the earliest Egyptian and Sumerian records to the most recent atrocities of the Second World War accord with early universal cannibalism, with animal and human sacrificial practices, or their substitutes in formalized religions, and with the worldwide scalping, head-hunting, body-mutilating, and necrophiliac practices of mankind in proclaiming this common bloodlust differentiator, this precarious habit, this mark of Cain that separates man dietetically from his anthropoid relatives and allies him instead with the deadliest of carnivores!3Raymond Dart, zitiert in Leakey und Lewin 1992, 183.
Diese Idee wurde von Robert Ardrey in einem Dart gewidmeten Buch mit dem Titel “The Hunting Hypothesis” popularisiert. Dabei fasst Ardrey die Jagdhypothese auf die folgende lapidare Weise zusammen: “Man is man, and not a chimpanzee, because for millions upon millions of evolving years we killed for a
living.”4Robert Ardrey 1977, 9.
In den ernsthafteren wissenschaftlichen Kreisen kulminierte die Jagdidee 1966 in einer Konferenz in Chicago mit dem Titel “Man the
Hunter”.5Daraus entstand auch eine Publikation gleichen Namens: Siehe Richard B. Lee und Irven DeVore 1968.
Allerdings wurde dort schon mit Bezug auf neueren ethnologische Studien anerkannt, dass in der Hominiden-Entwicklung das Sammeln vermutlich eine bedeutend grössere Rolle als das Jagen spielte. Dieser Befund spielte in der Folge die Schlüsselrolle bei einer Gegenreaktion aus feministischen Wissenschaftskreisen und führte logischerweise zur Sammelhypothese als Gegenmodell zur Jagdhypothese. Nach ihr bildet die Bindung zwischen Müttern und Kindern den Kern der Gesellschaft. Von hier aus erweitert sich das soziale Gefüge auf kooperative weibliche Netze, die mit ihrer Sammeltätigkeit den Hauptteil der Nahrungsversorgung bereitstellen, für eine gerechte Verteilung sorgen und auch neue Techniken
entwickeln.6Siehe Leakey 1994, 11. Zur Jagd- und zur Sammelhypothese siehe auch Leakey und Roger Lewin 1992, 183 f. bzw. 184-185.
Entsprechend erschien auch, als Gegenstück zu “Man the Hunter”, ein Buch mit dem Titel “Woman the
Gatherer”.7Frances Dahlberg 1981.
Inzwischen wird nun aber eine alternative Hypothese weitherum als die vermutlich plausibelste akzeptiert, die die Betonung vom Nahrungserwerb als sozialförderlichem Faktor, sei es Jagen oder Sammeln, weg zur Nahrungsteilung verlagert. Sie wurde 1978 durch Glynn Isaac in einem wegweisenden Artikel im Scientific American in die Diskussion
gebracht.8Glynn Isaac 1978.
“The adoption of food-sharing would have favored the development of language, social reciprocity and the intellect,” meinte
er.9Zitiert in Leakey 1994, 63.
Zu seiner Nahrungsteilungshypothese gehörte die Vorstellung, dass die Nahrung zurück zu einem Basislager gebracht und dort dann gemeinsam verspeist wurde; diese Vorstellung erschien gestützt durch viele Fundorte, an denen Steinwerkzeuge in Assoziation mit Knochen
vorkamen.10Siehe Leakey und Lewin 1992, 185 ff.
Wenn wir uns nach Ähnlichem bei den Menschenaffen umsehen, finden wir, dass Nahrungsteilung bei den Schimpansen vorkommt, in grösserem Stil aber nur nach einem Jagderfolg. Der Tumult, der dabei entsteht, lockt Schimpansen aus der Umgebung an den Ort des Geschehens, wo sie dann versuchen, sich ein Stück der Beute zu erbetteln. Das Teilen von pflanzlicher Nahrung kommt auch vor, aber beschränkt sich im allgemeinen auf
Mutter-Kind-Gruppen.11Vgl. McGrew 1981, 45 ff. und Fisher 1983, 62.
Nahrung wird also bei den Schimpansen in gewissem Umfang geteilt, aber direkt am Ort, an dem sie gefunden oder erbeutet wurde. Dagegen haben wir in 2.5 bezüglich der Bonobos festgestellt, dass sie sich zum Teil aufgerichtet fortbewegen und dabei mit ihren Händen Nahrung mittragen. Erst recht müsste der zum Normalfall werdende aufrechte Gang bei den frühen Hominiden die Möglichkeit gegeben haben, Nahrung nach “Hause” ins Basislager zu tragen, so die Überlegung. Jedenfalls ist es attraktiv, sich unsere Vorfahren im Gegensatz zur blutbeschmierten Jagdhypothese als kooperative, freundliche Wesen vorzustellen:
The new emphasis on the primitive sharing of meat and vegetables as the stimulus to erect posture and human family life is in conflict with the age-old image of early man as a brutish, aggressive thug who stood on his two feet and dragged his club from forest to savannah to start slaughtering animals and other men.12Fisher 1983, 62.
Die Basislager-Idee stiess aber auf Kritik. Ein gemeinsames Vorkommen von Knochen und Werkzeugen wäre überhaupt kein Beweis dafür, so wurde argumentiert, beides hätte auch zufällig zusammen kommen können, z.B. durch Wasser
zusammengespült.13Siehe Leakey 1994, 66, 68.
Aber auch Isaac selbst machte sich Gedanken und war seiner Sache nicht mehr sicher. Um dem Problem auf den Grund zu gehen, führte er sehr sorgfältig und systematisch eine neue Ausgrabung eines solchen Fundortes ca. 25 km östlich des Turkana-Sees in Kenya durch. Er grub 1405 Steinartefakte und 2100 Knochenfragmente aus, alles an die 1,5 Mio. Jahre alt. Des Rätsels Lösung: Auf vielen Knochen fanden sich durch Steinwerkzeuge verursachte Schneidespuren; unsere Vorfahren hatten hier also tatsächlich Fleisch von den Knochen gelöst. Allerdings gab es auch Anzeichen, dass dieses Fleisch nicht auf der Jagd erbeutet worden war, sondern als Aas ins Lager gekommen war, denn auf den gleichen Knochen fanden sich auch Spuren von Raubtierzähnen. Auch das Assortiment der gefundenen Knochen deutete eher auf Aas als auf Jagdbeute: Es wurden nicht gleichmässig alle Arten von Knochen gefunden, wie im letzteren Fall zu erwarten gewesen wäre, ein Anzeichen dafür, dass die Hominiden das ins Lager brachten, was Raubtiere übriggelassen hatten. Es gab ferner auch deutliche Spuren der Herstellung der Steinwerkzeuge an Ort und
Stelle.14Vgl. Leakey 1994, 67-72.
Damit wurde das Bild unserer Vorfahren als miteinander kooperierender Wesen und der Nahrungsteilung als eines grundlegenden Faktors für die Bildung sozialer Gruppen wieder rehabilitiert. Jedenfalls wurde deutlich, dass die früher so beliebte Hypothese der Jagd als Motor der Evolution zum Menschen nicht stimmen konnte.