1.2 Begriffsvokabular der Residenz- und Deszendenzregeln
In der ethnologischen Literatur gibt es eine weitgehende Übereinstimmung darüber, dass “primitive” Gesellschaften Verwandtschaftsgesellschaften (“kinship societies”) sind, in denen innerhalb und zwischen lokalen Gruppen Blutsverwandtschafts- und Heiratsbeziehungen bestehen.9 Dabei spielen Residenzregeln, die sich auf den Wohnort eines Paares unmittelbar nach der Heirat beziehen, und Deszendenzregeln (auch Filiationsregeln genannt), die darüber entscheiden, welche Abstammungslinien als massgeblich und welche Personen deshalb als miteinander verwandt betrachtet werden, eine Rolle. Dabei sollte aber, wie Helbling betont, immer klar zwischen zwei Perspektiven unterschieden werden, einer internen indigenen und einer externen analytischen. Die erstere orientiert sich an kulturellen (ideologischen) Kategorien und Normen, während die letztere das tatsächliche Verhalten in der Praxis, das durchaus vom theoretisch wünschbaren abweichen kann, festzustellen versucht.10 Zwischen diesen Gesichtspunkten gibt es häufig Unstimmigkeiten - die ganze Kontroverse um die sog. Hordentheorie, die wir in 4.1 und 4.2 aufgreifen werden, kann auf solche zurückgefürt werden. Im folgenden versuchen wir, die bezüglich der Residenz- und Deszendenzregeln gängigen Begriffe in tabellarischer (siehe Tab. 1 und 2) und figürlicher Form (siehe Abb.1 bis 10) zu erklären.
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Tabelle 1: Begriffsvokabular der Residenzregeln (nach Grohs-Paul und Paul 1981 ,147-148, 91, 108, 26 und Fox 1973, 85)
Unilokale Residenz |
Matrilokale oder patrilokale Residenz |
Matrilokale Residenz, auch uxorilokale Residenz |
Matrilokale Residenz, auch uxorilokale Residenz Das Übersiedeln des Mannes nach der Heirat in den Haushalt der Mutter seiner Frau (vgl. Abb.1) |
Patrilokale Residenz, auch virilokale Residenz |
Das Übersiedeln der Frau nach der Heirat in den Haushalt des Vaters ihres Mannes (vgl. Abb.2) |
Bilokale Residenz |
Regel, die einem Ehepaar erlaubt, zeitweise mit den Eltern des Mannes und zeitweise mit den Eltern der Frau zu wohnen |
Ambilokale Residenz |
Ein Ehepaar kann entweder in den Haushalt der Eltern der Frau oder aber in den Haushalt der Eltern des Mannes übersiedeln (vgl. Abb.3) |
Natolokale Residenz |
Mann und Frau verbleiben auch nach der Heirat in ihrem Geburtshaushalt; die Ehe hat dann die Form einer Besuchsehe (vgl. Abb.4) |
Neolokale Residenz |
Ein Paar sucht sich nach der Heirat einen von den beidseitigen elterlichen Haushalten unabhängigen neuen Wohnstandort (vgl. Abb.5) |
Tabelle 2: Begriffsvokabular der Deszendenzregeln (nach Grohs-Paul und Paul 1981, 147, 78, 91, 108, 37, 25 und 11)
Unilineare Deszendenz |
Matrilineare oder patrilineare Deszendenz |
Kognatische Deszendenz |
Nicht-lineare, bilaterale oder ambilineare Deszendenz |
Matrilineare Deszendenz |
Abstammungsrechnung in mütterlicher Linie, mit Rechten und Pflichten bezüglich Erbfolge (Besitz, Rang), Heiratswohnfolge, Familienbildung, Namensgebung u.a. (vgl. Abb.6) |
Patrilineare Deszendenz |
Abstammungsrechnung in väterlicher Linie, mit entsprechenden Rechten und Pflichten (vgl. Abb.7) |
Bilineare Deszendenz, auch doppelte Deszendenz |
Abstammungsregel, die einem Individuum gleichzeitig matrilineare und patrilineare Verwandtschaftsrechnung gestattet. Es ist verwandt durch die männliche Linie (agnatische Verwandte) mit Blutsverwandten, die von einem gemeinsamen Ahnen abstammen, und durch die weibliche Linie (uterine Verwandte) mit Blutsverwandten, die von einer gemeinsamen Ahnin abstammen (vgl. Abb.8) |
Bilaterale Deszendenz |
Die verbreitetste Form der kognatischen Deszendenz. Erlaubt einer Person, die Abstammungsrechnung durch die väterlichen und mütterlichen Linien beider Elternteile, also sowohl durch Vater und Mutter mütterlicherseits als auch durch Vater und Mutter väterlicherseits. Die für bilaterale Deszendenz typische Verwandtschaftsgruppe heisst Kindred (vgl. Abb.9) |
Ambilineare Deszendenz |
Eine zweite Form der kognatischen Deszendenz. Erlaubt eine Abstammungsrechnung ungeachtet des Geschlechts durch männliche als auch durch weibliche Vorfahren, jedoch nicht gleichberechtigt in alle Richtungen wie bei der bilateralen Deszendenz, sondern nur einer Richtung folgend. Die für ambilineare Deszendenz typische Verwandtschaftsgruppe wird Ramage genannt (vgl. Abb.10) |
Abbildung 1 (links): Matrilokale Residenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen stehen für Ehebeziehungen. Der fette Rahmen zeigt die Abgrenzung der lokalen Gruppe (nach Fox 1973, 82)
Abbildung 2 (rechts): Patrilokale Residenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen stehen für Ehebeziehungen. Der fette Rahmen zeigt die Abgrenzung der lokalen Gruppe (nach Fox 1973, 81)
Abbildung 3 (links): Ambilokale Residenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen stehen für Ehebeziehungen. Der fette Rahmen zeigt die Abgrenzung der lokalen Gruppe (nach Fox 1973, 83)
Abbildung 4 (rechts): Natolokale Residenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen stehen für Ehebeziehungen. Der fette Rahmen zeigt die Abgrenzung der lokalen Gruppe (nach Fox 1973, 78)
Abbildung 5: Neolokale Residenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Das Gleichheitszeichen steht für die Ehebeziehung. Der fette Rahmen zeigt die Abgrenzung der lokalen Gruppe (nach Fox 1973, 78
Abbildung 6: Matrilineare Deszendenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen zeigen die Ehebeziehung der Eltern und Grosseltern von Ego an. Die schattierten Symbole bezeichnen matrilineare Verwandte (aus Grohs-Paul und Paul 1981, 91)
Abbildung 7: Patrilineare Deszendenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen zeigen die Ehebeziehung der Eltern und Grosseltern von Ego an. Die schattierten Symbole bezeichnen patrilineare Verwandte (aus Grohs-Paul und Paul 1981, 107)
Abbildung 8: Bilineare Deszendenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen zeigen die Ehebeziehung der Eltern und Grosseltern von Ego an. Die schattierten Symbole bezeichnen bilineare Verwandte
Abbildung 9: Bilaterale Deszendenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen zeigen die Ehebeziehung der Eltern und Grosseltern von Ego an (aus Grohs-Paul und Paul 1981, 24)
Abbildung 10: Ambilineare Deszendenz. Kreis = weibliches Individuum, Dreieck = männliches Individuum. Die Gleichheitszeichen zeigen die Ehebeziehung der Eltern und Grosseltern von Ego an. (aus Grohs-Paul und Paul 1981, 11)
Anmerkungen
9
Für eine allgemeine Übersicht über die Verwandtschaftsethnologie siehe Thomas Helmig 1993.
10
Siehe dazu Helbling 1987, 27 f. und 30 f.
11
Nach Robin Fox (1973, 85) sind die Begriffe ambi-, nato- und neolokale Residenz nicht allgemein anerkannt.