www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

5.2.2 Die patriarchale Familie

Der Wandel der sozialen Ordnung von matrizentrischen zu patriarchalen Strukturen war ein langsamer Vorgang. Gewisse Begriffe erinnerten auch später noch an die Vergangenheit, so z.B. die Bezeichnung matrimonium für die Ehe.26 An der Transformation waren die Patrizier, die Vaterrechtler, “die ihre Väter kannten”, massgeblich beteiligt. Zunächst verwandelten sich die ursprünglichen matrilinearen in patrilineare Sippen, die immer noch ein Gemeineigentum kannten. Später zerfielen diese Sippen in einzelne Familien und parallel dazu erfolgte die Aufteilung des Sippeneigentums in Privateigentum. Zu diesem wurden auch die Frauen und die Kinder gezählt, d.h. eine Tochter stand unter der Herrschaft ihres Vaters, von der sie sich durch Heirat lösen konnte, womit sie aber nicht frei wurde, sondern lediglich den Besitzer wechselte. Das Resultat der Transformation war also die patriarchale, monogame Kernfamilie mit patrilinear gerechneter Abstammung und patrilokalem Wohnsitz. Nur diese Form konnte dem Mann die Sicherheit verschaffen, dass es von ihm gezeugte Kinder waren, die seine Frau zur Welt brachte.27
Will ein Mann sicher sein, dass die Kinder, die eine Frau zur Welt bringt, von ihm selbst gezeugt sind, wenn er Macht über seine Kinder haben will, muss er diese Frau aller Rechte über sie berauben, muss er sie also als nur reproduzierendes Weibchen behandeln.28
Unterstützt wurde diese Haltung durch eine (in der griechischen Antike auch z.B. durch Aristoteles vertretene) philosophische Ideologie, die behauptete, allein der Mann sei Schöpfer seiner Kinder, die Frau diene nur als Gefäss zur Ernährung und zum Austragen des Fötus und könne deshalb gar kein Recht auf die Kinder haben.29
Die ausgeprägteste Form fand das Patriarchat im alten Rom zur Zeit der Republik (510 bis 27 v.u.Z.). Der Familienvater, der pater familias, verfügte über die patria potestas, die Gewalt über Leben und Tod seiner Angehörigen, eine grundsätzlich unbegrenzte, von keinem Gesetz abhängige Macht. Die Konsequenzen zeigen sich als eine ziemliche geradlinige Fortsetzung der willkürlichen Macht und der Doppelmoral, deren Etablierung wird bei der Betrachtung der Patriarchalisierung der mesopotamischen Gesellschaften verfolgt haben (vgl. 5.1.2):
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Der Vater wählt für seine Tochter einen Mann aus und sein Wille ist bindend;
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Eine Frau kann sich nicht scheiden lassen, während dies für den Mann jederzeit möglich ist, und zwar ohne die Einschaltung irgendeiner Behörde.30 Ein häufiger Scheidungsgrund ist Geld: Sieht ein Mann die Möglichkeit, eine reiche Frau zu heiraten, kann er seine bisherige Gattin verstossen, ein Schritt, vor dem auch uns aus dem Lateinunterricht bekannte Figuren nicht zurückschreckten, “so der Tugendbold und Moralprediger Cicero, der eine neue Mitgift brauchte”;31
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Auch wenn der Ehe keine Kinder entspriessen, kann sich der Mann ohne weiteres von der Frau trennen. Kommt es zu einer Scheidung und sind schon Kinder da, bleiben diese beim Vater;32
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Die Frau ist zur strengsten Monogamie verpflichtet, während der Mann unbehelligt mit anderen Frauen, Sklavinnen und Prostituierten, verkehren darf;33
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Wird ein Ehemann trotzdem von seiner Frau “betrogen”, ist ihm ausdrücklich befohlen, sie vor Gericht zu bringen. Tut er dies nicht, ist ihr Vater zu einer Anzeige verpflichtet, und unterlässt es auch dieser, kann irgendein Bürger sie denunzieren und dafür einen festgelegten Teil ihres Vermögens kassieren;34
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Bringt ein Ehemann seine Frau um, ist er darüber niemandem Rechenschaft schuldig;35
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Den Knaben der herrschenden Klasse ist der Verkehr mit Prostituierten nicht nur von sehr frühem Alter an erlaubt, sondern geradezu vorgeschrieben. Ehefrauen und Töchter sollen geschützt werden, weil sie ja Eigentum des Gatten bzw. Vaters sind. “Also diente die Hure als offizieller Blitzableiter”;36
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Witwen und Töchter sind vom Erbrecht ausgeschlossen;37
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Der Vater entscheidet, ob er ein neugeborenes Kind anerkennen oder aber ablehnen will. Im letzteren Fall wird es ausgesetzt. Nicht überraschend betrifft dieses Schicksal häufiger Mädchen als Knaben. Die Mutter hat kein Mitspracherecht;38
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Der Vater kann auch ohne Zustimmung seiner Gattin Kinder - das werden normalerweise Knaben sein - adoptieren. Dies hat den Charakter einer “juristischen Negation der Biologie”.39 Eine Adoption ist ein möglicher Ausweg im Falle von Kinderlosigkeit; er sichert somit die Fortpflanzung des Geschlechts und die Vererbung der Güter, aber auch die Möglichkeit, öffentliche Ehren zu empfangen oder Posten zu bekleiden, denn der Familienvater-Status ist dafür Voraussetzung;40
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Während die Erziehung der Töchter den Vater nicht interessiert, widmet sich dieser aber sorgfältig derjenigen seiner Söhne. Er sieht es als seine Pflicht an, das Vorbild eines guten Bürgers zu sein. “Bei dieser Auffassung ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Strenge eine durchgehende Kosntanz väterlicher Erziehung war. ... Frauen und Dienerschaft durften Kinder liebkosen und sie mit Zärtlichkeit umgeben. Vom Vater jedoch verlangte die herrschende Moral Distanz und Festigkeit”;41
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Ein Sohn ist zu Lebzeiten seines Vaters seinem strengen Regiment unterworfen. Er kann von ihm zum Tode verurteilt oder auch all seiner Mittel beraubt werden, was ihm dann verunmöglicht, eine Karriere einzuschlagen;42
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Umgekehrt ist Vatermord das schlimmste aller Verbrechen;43
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Von politischen Betätigungen und staatlichen Aufgaben sind die Frauen ausgeschlossen.44
Diese reichlich düstere Liste zeigt die Reihe von Möglichkeiten an, die den römischen Vätern nach offiziellem oder Gewohnheitsrecht zustanden, und sie ist deshalb nicht notwendigerweise auch eine Beschreibung der alltäglichen Wirklichkeit. Diese mag damit überzeichnet sein, und Knibiehler meint, sicher seien nicht alle Väter Despoten gewesen, etliche von ihnen hätten zwecks Besserstellung ihrer erwachsenen Söhne (aber es sind immer noch nur die Söhne!) auch Einschränkungen der eigenen Macht in Kauf genommen.45 Nach Borneman ist aber die ganze hinter dieser Liste stehende Ideologie ein Ausdruck dafür, dass die Römer in einem Zustand der permanenten Furcht vor einer Wiederkehr des Mutterrechts gelebt hätten, in dieser Hinsicht seien sie geradezu paranoid gewesen. Sicher finde man auch freundliche Aussagen von Männern über ihre Frauen, aber dabei handle es sich meistens um einen Lobgesang auf die “Tugend” ihres Gehorsams. Entsprechend werde z.B. auf Grabsteinen früh verstorbener Ehefrauen gepriesen, dass die Verstorbene keinen Wünsch geäussert habe, der nicht auch ein Wunsch ihres Mannes gewesen sei.46 Im übrigen dient die patriarchale Familienstruktur auch als Modell für die politische Herrschaft, ja sogar für die religiöse Hierarchie. Dies äussert sich darin, dass die Senatoren patres genannt werden, die Aristokraten patricii, der Kaiser pater patriae und der höchster Gott Jupiter, eine Name, der dieWortwurzel pater enthält.47
Während der Zeit der Republik ging es den Frauen, wie gesagt, am schlechtesten. In der 27 v.u.Z. beginnenden Kaiserzeit aber begannen sich die Verhältnisse zu bessern, zunächst für die Frauen des gehobenen Standes, danach auch für diejenigen der mittleren und unteren Schichten. Dies war nicht direkt die Frucht einer öffentlich sanktionierten Frauenemanzipation. Aber zum einen verloren die Familienväter ihre mit persönlicher Gewalt verbundenen angestammten Rechte; diese gingen als öffentliche Gewalt an den Staat bzw. an vom Staat eingesetzte Gerichte über.48 Eine Konsequenz war z.B., dass ein Vater nicht länger seine Tochter wider ihren Willen verheiraten konnte.49 Und zum anderen griffen die Frauen zur Selbsthilfe, nachdem sie realisiert hatten, dass sie innere Widersprüche des patriarchalen Systems für sich ausnützen konnten:
... die Römerin ... protestierte ... mit dem einzigen Mittel, das ihr zur Verfügung stand: mit ihrem Körper. Gerade das, was die Männer so emsig zu verhindern suchten - Ehebruch - wurde damit zum Werkzeug der Frauenemanzipation ... Es [das Gewinnen von Positionen relativer Macht] war nicht dadurch geschehen, dass die Gesetze massgeblich reformiert worden wären, sondern dadurch, dass einzelne Frauen, nachdem sie sich durch die Macht ihres Bettes emanzipiert hatten, das ganze Rechtssystem ignorierten.50
Darüber hinaus aber führte sich dieses System selbst ad absurdum: “Da die Männer sich der vaterrechtlichsten aller vaterrechtlichen Aktivitäten widmeten, dem Krieg, fiel die Staatslast den Frauen zu.” Insbesondere auch entwickelte sich in Rom eine Kriegsindustrie, die Kapital erforderte und zu einer neuen auf der Bankwirtschaft aufgebauten Klasse führte, die der alten Aristokratie den Rang abzulaufen begann. An diesen Entwicklung nahmen auch Frauen teil, die damit Gelegenheit erhielten, Erfahrungen mit dem Rechtsverkehr, der Verwaltung und der Wirtschaft zu sammeln und sich ein neues Selbstvertrauen anzueignen.51 Sie konnten sich vom Einfluss ihrer Ehemänner befreien und beruflich tätig werden. Von da aus war es dann nur noch ein Schritt zum Eintritt der Frau auch in die letzte rein männliche Domäne, die der Politik (ohne gesetzliches weibliches Wahlrecht) und des Militärwesens - es ist bekannt, dass es Frauen bis zum Offiziersrang in der Armee brachten.52

Anmerkungen

26
Diese wurde also auch in der patriarchalen Zeit nicht patrimonium genannt. Dieser Begriff existierte zwar auch, aber bezog sich auf etwas ganz anderes: auf das Erbteil, das vom Vater auf den Sohn überging. Somit, meint Borneman (1984, 359) war matrimonium ein Konzept des Naturrechts, patrimonium ein Begriff des Zivilrechts.
27
Nach Borneman 1984, 123, und Yvonne Knibiehler 1996, 22. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass das Wort familia die gleiche Wurzel hat wie das Wort famulus (=Diener) (nach Borneman 1984, 358).
28
Knibiehler 1996, 29.
29
Vgl. Knibiehler 1996, 30.
30
Nach Borneman 1984, 399, 409.
31
Borneman 1984, 410.
32
Nach Knibiehler 1996, 31.
33
Siehe Knibiehler 1986, 31.
34
Nach Borneman 1984, 389.
35
Nach Borneman 1984, 386.
36
Borneman 1984, 417.
37
Siehe Borneman 1984, 385.
38
Vgl. Borneman 1984, 412, und Knibiehler 1996, 32.
39
Borneman 1984, 413.
40
Vgl. Knibiehler 1996, 33-34, und Borneman 1984, 412-413.
41
Knibiehler 1996, 36.
42
Nach Knibiehler 1996, 37.
43
Vgl. Knibiehler 1996, 38.
44
Nach Borneman 1984, 386.
45
Siehe Knibiehler 1996, 38.
46
Vgl. Borneman 1984, 385-386.
47
Nach Knibiehler 1996, 31.
48
Vgl. Borneman 1984, 362.
49
Nach Borneman 1984, 399.
50
Borneman 1984, 484.
51
Borneman 1984, 486.
52
Siehe Borneman 1984, 487-488.