www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

3.3 Das “Stammbaum-Modell” von Robert Foley

In diesem Ansatz kombiniert Foley Kenntnisse über die Lebensweise unserer nächsten Verwandten, der Menschenaffen, mit grundsätzlichen Überlegungen zu ökologischen und sozialen Faktoren und kommt zu folgendem Schluss: Wenn wir die heutigen Menschenaffen stammbaummässig, d.h. in der Reihenfolge ihrer Abspaltung von der zum Menschen führenden Entwicklungslinie (vgl. dazu Abb.3 in “Menschwerdung”) einordnen, dann bilden die zugehörigen Formen des Soziallebens gleichzeitig eine evolutionäre Folge (siehe Abb.14). In seiner Argumentation geht Foley vom auf P.C. Lee zurückgehenden Konzept des “endlichen sozialen Raumes” aus.34 Dieses besagt, dass es nur eine beschränkte Anzahl von Arten gibt, wie sich eine Gesellschaft organisieren kann. Einige dieser Arten sind häufiger, andere seltener. Der Ausgangspunkt der Überlegungen bildet eine für alle Säugetiere geltende biologische Rahmenbedingung, die Reproduktionskosten betreffend. Diese sind für weibliche und für männliche Individuen unterschiedlich: Die Produktion männlicher Keimzellen ist hinsichtlich Zeit- und Energieaufwand relativ billig und das reproduktive Potential eines Mannes ist damit in erster Linie durch die Möglichkeiten des Zugangs zu Partnerinnen limitiert. Die Produktion weiblicher Keimzellen hingegen ist aufwendiger und dazu kommen ja dann noch die Kosten der Schwangerschaft und des Stillens. Das reproduktive Potential einer Frau ist damit durch die Verfügbarkeit von Zeit und Energie beschränkt. Die Folge: Die räumliche Verteilung von Frauen richtet sich in erster Linie nach der Verteilung der Nahrungsquellen, diejenige der Männer vornehmlich nach derjenigen der Frauen. Je nach Situation ergeben sich hinsichtlich des Soziallebens verschiedene Strategien: Eine Frau kann a) solitär leben, b) sich mit anderen, verwandten Frauen zusammentun oder c) mit nicht-verwandten Frauen eine Gruppe bilden. Über entsprechende Optionen verfügen die Männer. Kombinieren wir diese beiden Variationsmöglichkeiten mit je 3 Fällen, erhalten wir eine Matrix des sozialen Raumes mit 9 Zellen (vgl. Abb.15). Dazu treten dann noch die möglichen Assoziationen zwischen den Geschlechtern, von denen es zwei Arten gibt: Männer und Frauen können dauerhafte Beziehungen unterhalten, die eine einzelne Paarung überdauern, oder sie können in vorübergehende Assoziationen eintreten. Insgesamt ergeben sich daraus 18 mögliche Fälle.35
Abbildung 14: Das Stammbaum-Modell nach Foley. Die von oben nach unten angegebenen Formen des Sozialsystems werden als evolutionäre Folge betrachtet (nach Foley 1997, 185).
Abbildung 14: Das Stammbaum-Modell nach Foley. Die von oben nach unten angegebenen Formen des Sozialsystems werden als evolutionäre Folge betrachtet (nach Foley 1997, 185).
Lee hat auch Häufigkeiten des Vorkommens der einzelnen Sozialtypen bei den Primaten-Arten bestimmt: Unter den sozial lebenden Arten bauen 47% auf weiblichen und nur 6% auf männlichen Verwandtschaftsprinzipien auf. 31% der Arten leben monogam. Fälle, in denen sowohl die Frauen wie auch die Männer Assoziationen mit Verwandten bilden, fehlen (womit also die Zelle rechts unten in Abb.15 für einen nicht existierenden Typ steht. Dies bedeutet, dass immer das eine oder das andere Geschlecht bei Erreichen der Geschlechtsreife die Geburtsgruppe verlässt.36
Foley benützt nun das Modell des begrenzten sozialen Raumes zum Ziehen von Schlüssen hinsichtlich der Evolution der Formen des Soziallebens, aufbauend auf der Überlegung, dass die Evolution aus dem Wechsel von einer Form zur anderen bestehen muss. Der Enwicklungsantrieb ergibt sich aus einem Wandel der ökologischen Bedingungen, der dazu führt, dass alte, nicht mehr angepasste Sozialformen durch neue, angepasste ersetzt werden. Gruppen von sozial zusammenlebenden Individuen können sich bilden, wenn entweder die Ressourcen räumlich gleichmässig verteilt sind oder aber auf grosse Flecken konzentriert vorkommen, denn dann ist es möglich, dass mehrere Individuen zusammen die Nahrungsquellen nutzen. Ist dies nicht der Fall, werden die Individuen zerstreut bis solitär leben.37
Abbildung 15: Das endliche Sozialraum-Modell. Zusätzlich zu den 3 mal 3 Möglichkeiten kann in jeder Zelle zusätzlich nach der Art der Paarungsbeziehung zwischen Frauen und Männern unterschieden werden (nur in der zentralen Zelle durch die diagonale Unterteilung gezeigt) (nach P.C. Lee 1994 aus Foley 1997, 178).
Abbildung 15: Das endliche Sozialraum-Modell. Zusätzlich zu den 3 mal 3 Möglichkeiten kann in jeder Zelle zusätzlich nach der Art der Paarungsbeziehung zwischen Frauen und Männern unterschieden werden (nur in der zentralen Zelle durch die diagonale Unterteilung gezeigt) (nach P.C. Lee 1994 aus Foley 1997, 178).
Wenn wir nun davon ausgehen, dass Frauen aus dem genannten Grund sich primär an den ökologischen Bedingungen orientieren und also je nach Situation gruppiert bis vereinzelt leben, stellt sich die Frage, wie die Männer auf die unterschiedlichen Situationen reagieren - sie richten sich ja wie gesagt nach der räumlichen Verteilung der Frauen. Leben diese räumlich stark zerstreut, müssen auch die Männer entsprechend zerstreut sein. Im Resultat ergibt sich entweder eine ganz solitäre Lebensweise oder, wenn Territorien oder Frauen verteidigt werden, eine mit monogamen Paarbindungen. Gruppieren sich die Frauen dagegen rund um reichhaltige Nahrungsvorkommen, kommt es zur Bildung einer Gruppe von miteinander nicht verwandten Männern, die um den Zugang zu diesen Frauen konkurrieren. Haben Frauengruppen eine stark konzentrierte Form, kann je ein Mann eine Gruppe als Harem übernehmen und verteidigen. Bei einer stärkeren Dispersion der Frauen ist dies aber nicht mehr möglich, wohingegen sich dann ein männliches Verwandtschaftssystem etablieren kann, das eine Territoriumsverteidigung übernimmt. Haben sich soziale Systeme einmal gebildet, wird Sozialität selbst zu einem Faktor, der zur Kosten-Nutzen-“Rechnung” des Zusammenlebens beiträgt. Die soziale Evolution entwickelt ihre eigenen internen Mechanismen und damit ist anzunehmen, dass ihr Fortgang dann immer mehr von nicht-biologischen Faktoren geprägt wird, wobei allerdings die ökologischen Bedingungen weiterhin den grundlegenden Rahmen bilden.38
In welcher Weise haben sich nun diese Bedingungen im Laufe der Zeit geändert und wie ist die Primatenentwicklung auf den Menschen hin davon beeinflusst worden? Vor 25 Mio. Jahren, zur Zeit als sich die Entwicklungslinien von Affen und Menschenaffen trennten, war die äquatoriale Zone von Afrika von West bis Ost von tropischen Wäldern bedeckt. Dies waren ideale Bedingungen für die Bildung von auf weiblichen Verwandtschaftsprinzipien beruhenden sozialen Gruppen, bei denen eine Residenz der Frauen mit einer Dispersion der Männer kombiniert war. Dies ist auch bei den heute lebenden Affenarten noch der Fall, jedenfalls dort, wo Verwandtschaft überhaupt eine Rolle spielt.39 Dann aber begann sich das miozäne Klima zu verändern: Es wurde allmählich kühler und trockener. An die Stelle des geschlossenen Waldes traten offenere Waldformationen, in denen die Nahrungsressourcen jetzt räumlich unregelmässig verteilt und von saisonalen Schwankungen abhängig waren, womit sie allgemein knapper wurden. Im Gebiet von Ostafrika, das ja aufgrund der Fossilienfunde für die Frage der Menschwerdung besonders interessant ist, wurde der klimatische Wandel später im Pliozän durch die tektonischen Ereignisse, die zur Bildung des ostafrikanischen Grabensystems führten, noch verstärkt. Windschatteneffekte des neuen Reliefs hatten die Bildung von Savannen zur Folge (vgl. 3.1 in “Menschwerdung”). Diese Veränderungen dürften zu einer längeren krisenhaften Phase der Primatenevolution geführt haben und die heute lebenden Arten sind als Resultat dieser Krise aufzufassen.40 Die neue Ressourcenstruktur war wohl der Bildung grösserer Gruppen nicht förderlich. Damit wurden Verwandtschaftssysteme eher selten, während monogame und solitäre Lebensweisen häufiger auftraten. Im weiteren Verlauf konnten sich die Affen aber an Savannen-, zum Teil sogar an Wüstenverhältnisse anpassen, und zwar so gut, dass sie trotz der Zerstreutheit der Ressourcen grössere Gruppen zu bilden vermochten, so wie wir sie heute vorfinden (Beispiel: Paviane).41
Die Menschenaffen hingegen hielten sich mehr an noch stärker bewaldete Regionen oder Waldrandgebiete, zeigten also einen gewissen ökologischen Konservatismus. Trotzdem kam es zu einer radikalen Änderung des sozialen Systems, da nun die wachsende Körpergrösse als zusätzlicher Faktor auftrat. Dieser verhinderte die erneute Bildung von weiblichen Verwandtschaftssystemen und wurde darüber hinaus überhaupt zu einem Hemmschuh für gruppenbasierte Lebensformen. Die Lösung lag entweder in der Übernahme solitärer Lebensweisen, wie sie heute Gibbon und Orang-Utan aufweisen,42 oder aber in einer Weichenstellung zu einer neuen Entwicklungsrichtung. Wird die Beschaffung von Ressourcen infolge ihres zerstreuten Vorkommens aufwendiger, können die Frauen, die flexibel bleiben müssen, entweder nicht mehr gruppenweise leben, oder sie verhalten sich mindestens neutral gegenüber einer Gruppenbildung. Dies aber eröffnet jetzt Möglichkeiten für die Männer zur Bildung von Verwandtschaftssystemen mit der Folge, dass nun eher die Frauen hinsichtlich ihrer räumlichen Dispersion eine Antwort auf das Verhalten der Männer bilden.43 In voll bewaldeten Regionen konnte sich die soziale Lebensform des patrilinearen Harem entwickeln, wie sich heute noch bei den Gorillas vorkommt (vgl. 2.3).44 In offeneren und trockeneren Gebieten dagegen dürften sich eher soziale Systemeder Art eingestellt haben, wie sie von den heutigen Schimpansen bekannt sind (vgl. 2.4): mit einer männlichen, ein Territorium kontrollierenden Verwandtschaftsgruppe mit mehreren Frauen, die nicht an bestimmte Männer gebunden sind.45 Diese Überlegungen führen Foley dazu, patrilineare Verwandschaftsstrukturen auch schon für unsere frühen Vorfahren anzunehmen, und zu vermuten, dass dann die sich weiter verändernden Umweltbedingungen die schon angelegte Tendenz in dieser Richtung noch verstärkten, oder dass umgekehrt die Voraussetzungen für die Bildung matrilinearer Systeme immer schlechter wurden.46 Interessanterweise fallen nun aber die Bonobos in dieser Hinsicht ziemlich aus der Rolle (vgl. 2.5),47 denn aus ihrem Sozialleben kann herausgelesen werden, dass es auch eine Entwicklung in Richtung von eher egalitären oder matrizentrischen Lebensformen gab. Foley kommentiert diesen Umstand nicht gross, ausser dass er eine Brennpunktsverlagerung vom männlichen Verwandtschaftssystem zu Frau-Mann-Allianzen zugibt.48
Der Trend zu stabileren und intensiveren Beziehungen zwischen den zwei Geschlechtern bringt Foley mit der zunehmenden Notwendigkeit einer aufwendigen und andauernden Kinderpflege in Verbindung. Diese Notwendigkeit entstand einerseits infolge der sich noch einmal verschlechternden Umweltbedingungen, andererseits durch die Gehirnvergrösserung (vgl. 3.2 und 4 in “Menschwerdung”) und die Verlängerung der Kindheit. Es resultierten daraus zusätzliche energetische Kosten, die von den schwangeren und stillenden Frauen getragen werden mussten. Foley denkt auch, dass in der damals relativ pflanzenarmen Umwelt die zusätzlich benötigte Energie nur durch Fleischkonsum gedeckt werden konnte. Aus all diesen Gründen muss es für eine Frau von Vorteil gewesen sein, ein enges, länger dauerndes Band zu einem Mann zu etablieren - in dieser Hinsicht trifft sich diese Überlegung mit der in 3.2 besprochenen Argumentation von Fisher. Nach Foley bedeutet dies nun, dass als Resultat eine Sozialstruktur mit patrilinearem, patrilokalem und polygynem Charakter angenommen werden muss,49 - eine Folgerung, die mich nicht überzeugend dünkt. Im übrigen denkt Foley nicht an eine lineare Ursache-Wirkungs-Kette, sondern an eine Wechselwirkung:
Large brains are a response to greater social complexity, whilst those large brains, with their high energetic costs, will reciprocally alter the nature of social relationships.50

Anmerkungen

34
P.C. Lee 1994, nach Foley 1997, 176.
35
Vgl. Foley 1997, 176.
36
Nach Foley 1997, 177.
37
Vgl. Foley 1997, 177, 179.
38
Nach Foley 1997, 180-181.
39
Foley 1997, 178.
40
Vgl. Foley 1997, 182.
41
Nach Foley 1997, 183.
42
Deren Abspaltung von der hominiden Entwicklungslinie liegt ca. 22 Mio. (Gibbon) bzw. 16 Mio. Jahre (Orang-Utan) zurück (vgl. Abb.3 in “Menschwerdung”).
43
Foley 1997, 184.
44
Die Abspaltung des Gorilla von der hominiden Entwicklungslinie erfolgte vor rund 10 Mio. Jahren (vgl. Abb.3 in “Menschwerdung”).
45
Die Entwicklungswege des Menschen und des Schimpansen trennten sich vor rund 8 Mio. Jahren (vgl. Abb.3 in “Menschwerdung”).
46
Nach Foley 1997, 187-189.
47
Vor rund 3 Mio. Jahren zweigte die Entwicklung des Bonobo von der Schimpansen-Linie ab (vgl. Abb.3 in “Menschwerdung”).
48
Vgl. Foley 1997, 179.
49
Siehe Foley 1997, 190-191.
50
Foley 1997, 191.