www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

4.4 Die mentale Stufe139

Hier gelangt nun die menschliche Bewusstseinsentwicklung zur expliziten Entfaltung des diskursiven Bewusstseins:
... es handelt sich um das ansatzmässige In-Erscheinung-Treten des gerichteten Denkens ... [dieses] ist objektbezogen und damit in die Dualität ... gerichtet, und erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich.140
Diese Bewusstseinsstufe kommt im antiken Griechenland zu einer Blüte. Der Übergang zu ihr kommt in Homers Ilias zum Ausdruck: Es ist
der uns bekannte früheste Bericht ..., der zum ersten Male innerhalb unserer abendländischen Welt nicht nur ein Bild evoziert [wie dies im mythischen Bewusstseinszustand geschieht], sondern eine geordnete, von Menschen und nicht ausschliesslich von Göttern getragene Handlung in einem gerichteten, also auch kausalen Ablauf, beschreibt.141
Die Vorstellungen von einer Intentionalität des Handelns und von der Zurechenbarkeit von Handlungen zu Individuen werden nun auch zu einer Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung.142 Das gerichtete Denken drückt sich aber auch in der Entstehung von hierarchischen Herrschaftsverhältnissen aus, einmal innergesellschaftlich, aber auch in der Vorstellung der bevorzugten Stellung des Menschen gegenüber der Natur. Dies zeigt sich in den Abgrenzungen, die durch die Dualitäten von z.B. Mensch und Gott, oder Subjekt und Objekt geschaffen werden. Der Mensch stellt sich nun also eindeutig der Aussenwelt gegenüber, die vorherige Entsprechung von Seele und Natur geht verloren, ebenso die Ausrichtung am Kollektiv, die für das praktische Bewusstsein so massgeblich ist. Es entstehen stattdessen individualistische, ich-bezogene, auf einzelne als nützlich erachtete Objekte gerichtete Sichtweisen.
Das Pendant zum Ich-Bewusstsein ist das ausgesprochene Raumbewusstsein, denn ein Ich, das sich seiner selbst bewusst wird, kann sich dem Raum gegenüberstellen und ihn frei von den seelischen Einschränkungen der mythischen Zeit objektivierend in den Blick nehmen, und er kann darüber hinaus in abstrahierender Weise eine gedachte Welt entwickeln. Damit ist, an der Jonas'schen Terminologie anknüpfend, noch einmal die Divergenz zwischen der Vereinzelung einerseits und der Ausdehnung andererseits angesprochen. Mit dem Denken über die Welt beginnen die Anstrengungen, auf sie Einfluss zu nehmen, sie umzugestalten. Dies ist auch logisch: Wenn die Umwelt in Einzelheiten zerfällt, muss es dazu den kompensierenden Versuch geben, diese wieder in einen ganzheitlichen Zusammenhang einzuordnen, was eben auch bedeuten kann, dass dieser Zusammenhang ein künstlich hergestellter ist. Durch diese Entwicklung ist, so Gebser, das alte Gleichgewicht gestört, es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll.
Gebser unterscheidet eine frühere effiziente von einer späteren defizienten Phase des mentalen Bewusstseinszustandes. Damit will er ausdrücken, dass eine anfänglich in vielerlei Hinsicht positive Entwicklung zu einem Zustand mit vorwiegend negativen Vorzeichen degeneriert. Die effiziente Phase umfasst eben das Altertum, in abgeschwächtem Masse auch das Mittelalter. Tatsächlich war ja in der griechischen Antike bei allem Aufbruch in Richtung des Rationalen die durch Gefühl und Sinne unterstützte Orientierung am Kosmos immer noch massgebend. Das mentale Denken hatte in diesem Sinne einen mass- und teilnehmenden Charakter; es kommt darin die Kombination einer holistischen Orientierung mit einer rationalen Interpretation zum Ausdruck.
Während also das effiziente mentale Bewusstsein sich noch an einer Wechselbeziehung der neuerdings explizit zum Zuge kommenden diskursiven Bewusstseinsebene mit den unteren Bewusstseinsschichten ausrichtet, zeichnet sich seine defiziente Version gerade dadurch aus, dass dies nicht mehr der Fall ist: Das diskursive Bewusstsein spaltet sich von seinen eigenen Grundlagen ab und versucht, sich in selbstbezogener Weise weiterzuentwickeln. In der Renaissance werden nach Gebser die Grundlagen für diese Entwicklung gelegt. Soweit vorher noch ein In-der-Welt-Sein und ein Teilhaben massgebend war, wird daraus nun endgültig ein Gegenüber-der-Welt-Sein und ein Haben: "Der Mensch ist nicht mehr nur in der Welt, sondern er beginnt sie zu haben. ... Das ist sowohl Gewinn als Verlust."143 Aus dem "richtenden, ermessenden Denken" der Antike wird ein "teilendes, massloses Zerdenken".144
Mit der Entdeckung der Perspektive in der Frührenaissance wird auch die planmässige Erschliessung des Raumes möglich,145 aber da dies immer aufgrund von Teilansichten geschieht, ist damit eine entsprechend zerteilende Haltung verbunden (vgl. Abbildung 7). Die kompensierenden Versuche, die Basis der Welt in grundlegenden Prinzipien zu finden, werden zunehmend abstrakter. An die Stelle des noch einfühlsamen Denkens und Tuns göttlicher Gestalten treten Naturgesetze, Quarks, explodierende Universen und dergleichen. Nach Gebser stellt das defiziente mentale Denken der Neuzeit einen Weg in die Leere dar: Der individualisierte Mensch, der über eine zerstückelte Umwelt zu verfügen versucht, stellt sich in einen Gegensatz zur Welt: "... jede Zwecksetzung ist immer machtgeladen, und vor allem auch betont eigennützig, und steht somit im Gegensatz zum Weltganzen."146
Abbildung 7: Das perspektivische Zeichnen mit einem Gitter als Hilfsmittel führt zum distanzierten wissenschaftlichen Blick der Neuzeit. Nicht von ungefähr wird wohl in einer patriarchalisierten Zivilisation auch der weibliche Körper so betrachtet. Der Original-Kommentar zur Abbildung: "Das 'Stielauge' wissenschaftlichen Sehens macht aus sinnlicher Lebendigkeit kalte Registrierung. Wissenschaftlich Arbeitende engagieren sich nicht für ihre 'Gegenstände', solange sie forschen. Vielleicht holen sie das in ihrer Freizeit nach?" (aus Kaeser 1987)
Abbildung 7: Das perspektivische Zeichnen mit einem Gitter als Hilfsmittel führt zum distanzierten wissenschaftlichen Blick der Neuzeit. Nicht von ungefähr wird wohl in einer patriarchalisierten Zivilisation auch der weibliche Körper so betrachtet. Der Original-Kommentar zur Abbildung: "Das 'Stielauge' wissenschaftlichen Sehens macht aus sinnlicher Lebendigkeit kalte Registrierung. Wissenschaftlich Arbeitende engagieren sich nicht für ihre 'Gegenstände', solange sie forschen. Vielleicht holen sie das in ihrer Freizeit nach?" (aus Kaeser 1987)
Dazu weist Gebser auf ein zweite Gefahr hin: Wenn das Rationale überrational wird, der Individualismus überindividualistisch, droht der Absturz ins Massenhafte; das unterdrückte Unbewusste kann plötzlich in unkontrollierter Weise die Psyche überschwemmen:
Die heutige Situation zeigt einerseits einen ins Extrem gesteigerten Individualismus rein egozentrischen Charakters, der alles haben will, andererseits einen ins Extrem gesteigerten Kollektivismus vermassenden Charakters, der alles zu sein sich anmasst; hier herrscht eine vollständige Geringschätzung des Individuums, das nicht einmal mehr als Nummer bewertet wird, dort eine Überbewertung des Individuums, dem alles gestattet wird, wenn es nur dazu fähig ist.147
Und der Biologe Adolf Portmann drückt sich ähnlich, wenn auch noch drastischer aus:
Die unabsehbare Steigerung des bewussten Lebens, der Ich-Funktionen... muss zu völlig krankem Menschsein führen, zu einseitiger Hypertrophie der Ich-Position, zu grauenvoller Vereinzelung und Vereinsamung und damit zum Umschlag, zu rauschhafter Preisgabe dieser Ich-Vorzüge in Massenpsychosen von ungeahnten Ausmassen, gegen welche die einstigen Epidemien harmlose Störungen waren.148
Tatsächlich gehören ja fundamentalistische Strömungen ebenfalls zum Bild der Neuzeit; so gesehen sind sie also nicht Ausdruck einer noch nicht gelungenen Aufklärung, sondern Folge einer Aufklärung, die gewissermassen zu gut gelungen ist.

Anmerkungen

139
Vgl. Gebser 1949: 123 ff.
140
Gebser 1949: 125.
141
Gebser 1949: 125.
142
Vgl. Klaus Eder 1980: 70.
143
Gebser 1949: 25.
144
Gebser 1949: synoptische Tafel am Ende des Buches.
145
Damit beginnt nach Gebser die "perspektivische Welt", die nun an die Stelle der vormodernen "unperspektivischen Welt" tritt (vgl. Gebser 1949: 23ff. bzw. 19 ff.).
146
Gebser 1949: 163.
147
Gebser 1949: 7.
148
Adolf Portmann 1963: 258.