Balancierte Reziprozität:186Auch "äquivalente Reziprozität" genannt.
Diese entspricht dem Mittelpunkt der Skala, bei dem es um direkten Tausch geht. Das bedeutet, dass etwas, das dem Erhaltenen äquivalent ist, zurückgegeben werden muss. Im Extremfall, z.B. bei Heiratstransaktionen, Freundschaftsbekräftigungen und Friedensschliessungen, kann es sich um einen sofortigen Tausch von der gleichen Art von Gütern in derselben Menge handeln. In abgeschwächter Form geht es um Transaktionen, bei denen etwas von vergleichbarem Wert oder Nutzen innerhalb einer bestimmten zeitlichen Frist zurückgegeben wird. Dazu gehört eine primitive Form des Handels. Eine solche kann zwischen entfernteren Verwandten, also z.B. zwischen den Angehörigen von zwei verschiedenen Sippen des gleichen Stammes stattfinden. Solche Transaktionen haben u.U. neben dem sozialen auch einen schon stärker wirtschaftlichen Charakter, d.h. die materielle Seite der Angelegenheit kann ebenso wichtig wie die soziale werden. Dies ist allerdings beim berühmten, von Malinowski beschriebenen Beispiel des sog. Kula-Handels in der Inselwelt Melanesiens noch nicht eigentlich der
Fall.187Siehe Malinowski 1984, 115 ff. Eine Zusammenfassung findet sich in Furger 194, 165-166.
Es geht hier um die der Ethnie der Massim angehörenden Bewohner verschiedener Inselgruppen an der Ostspitze Neuguineas, so der d’Entrecasteaux-, der Trobriand-, der Marshall Bennett-und der Laughlan-Inseln. Diese bilden einen Inselring, und in diesem spielt sich ein Tauschhandel mit zwei Arten von Gegenständen ab, die in entgegengesetzter Richtung im Kreis herum laufen: Halsketten aus roten Muscheln,
soulava genannt, wandern im Uhrzeigersinn, Armreifen aus weissen Muscheln,
mwali genannt, im Gegenuhrzeigersinn (vgl. Abb. 13). Ein Mann, der im Besitze von einem oder mehreren dieser Schmuckstücke sind, kann per Boot eine sich meist über Monate erstreckende Seeexpedition zu einer der benachbarten Inseln, auf der er einen Handelspartner hat, unternehmen. Dort werden dann die Halsketten und Armreifen in einem zeremoniellen Akt ausgetauscht. Der Besucher bleibt dann für ein paar Tage und während dieser Zeit findet dann ein gewöhnlicher Handel mit Knollenfrüchten, Schweinen, Töpfereiwaren und Kanus statt. Dieser letztere hat nun einen explizit ökonomischen Charakter, während das vordergründige Kula-System der Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen und der Kommunikation dient. Ohne das Spielen der Reziprozität nach festgelegten Kula-Regeln würde die Beziehung zwischen den Betroffenen gestört. Nun ist zu beachten, dass Malinowski seine Feldbeobachtungen in Melanesien in den Jahren 1914-18 machte. Entsprechend stellt sich die Frage, ob und wie weit dieses System bis heute überlebt hat. Carol R. Ember und Melvin Ember zufolge ist das Kula immer noch eine bedeutende Institution im Leben der Inselbevölkerung. Sie vermelden, dass in den 60er und 70er Jahren einigen Politikern die Tatsache, dass sie Kula-Teilnehmer waren, zur Wahl in das nationale Parlament von Papua Neuguinea
verhalf.188Nach Carol R. Ember und Melvin Ember 1995, 209.